Ein bisschen erinnert es an Teleshopping: Da sitzt eine junge Frau an einem Schminktisch und erklärt Schritt für Schritt, was sie gerade mit welchen Produkten tut. Dabei filmt sie sich selbst – und vielleicht legt auf der anderen Seite des Endgeräts genau deshalb ein Zuschauer eben dieses Schminkset in den Warenkorb. Das Ganze findet allerdings nicht im Fernsehen, sondern auf dem Smartphone statt – und zwar in Echtzeit.

Der User ist immer live dabei

Wir sprechen von Livestreaming – und genau das ist in China längst einer der wichtigsten Kanäle für Online-Shopping, auch als Live Commerce bekannt. Live Commerce kann man sich so vorstellen: Über diverse Plattformen wie Taobao (ein Überblick über die wichtigsten Apps folgt am Ende des Artikels) filmen sich Influencer, die man in China „Wanghong“ oder „KOLs“ (Key Opinion Leaders) nennt, über mehrere Stunden hinweg bei so ziemlich allem; beim Essen, Shoppen, Karaokesingen, Ausgehen oder, wie in einer Teleshopping-Fernsehshow, in einem Studio.

Dabei testen oder tragen sie Produkte, die ihre Zuschauer direkt online kaufen können. KOLs interagieren währenddessen mit den Zuschauern, können mit ihnen chatten, ihre Fragen zu Produkten beantworten und von ihnen sogar eine Art Trinkgeld erhalten – echtes Geld in Form eines Online-Tokens, das zum Beispiel wie ein Blumen-Emoji aussieht.

Livestreaming in China

Karriere-Chance

Live-Aufnahmen kann so ziemlich jeder erstellen, zum Beispiel über die App „YY“, mit der zahlreiche junge Chinesen versuchen, im Internet berühmt zu werden – ganz so, wie man es bei uns von Menschen kennt, die versuchen, eine Karriere als Instagramer oder YouTuber zu starten. Livestreaming ist gerade für Chinesen aus – im Vergleich zu Shanghai oder Peking – kleineren und ärmeren Städten ein attraktiver Weg, um Bekanntheit zu erreichen – und über Tokens vielleicht sogar Geld zu verdienen.

Der Regisseur Hao Wu hat eine Dokumentation über Livestreaming gedreht: „People’s Republic of Desire“ wirft einen Blick hinter die Kulisse und zeigt die Schattenseiten des Geschäfts. „Sie haben alle einen Plan B. Aber diese Leute haben normalerweise keinen College-Abschluss … Sie haben kein Sozialkapital, sie wissen nicht, wie man ein richtiges Geschäft führt“, erzählte er CNBC.

Die Reichweite muss stimmen

Auch für Livestreamer gibt es in China heute zahlreiche Influencer-Agenturen, die KOLs und Brands miteinander verbinden. Denn im Unterschied zu westlichen Social-Media-Netzwerken werden die chinesischen Apps gezielt von vornherein als E-Commerce-Plattformen verstanden und nicht erst durch bezahlte Influencer-Kooperationen zu solchen entwickelt.

Die KOLs kommen in China dann ins Spiel, wenn sie bereits eine eigene, für das Unternehmen nützliche Reichweite aufgebaut haben. Bezahlt werden sie von ihren Kooperationspartnern, die wiederum eine klassische Nutzungsgebühr an die jeweilige Plattform abgeben.

Livestreaming in China

Milliarden-Umsätze

Livestreaming wächst in China seit 2016 rasant – und der Markt ist längst nicht gesättigt. Deloitte schätzte den Umsatz für 2018 auf 4,4 Milliarden US-Dollar, ein Wachstum von 32 Prozent im Vergleich zu 2017 (und 86 Prozent im Vergleich zu 2016!). 456 Millionen Nutzer prognostizierte dieselbe Studie für das Jahr 2018.

Eine offizielle Bestätigung dieser Zahlen gibt es nicht. Es ist aber gut möglich, dass sie für 2019 sogar noch höher ausfielen – wenn man denn den Nutzungszahlen vertraut, welche die App-Betreiber herausgeben. Ein Beispiel: Allein die Shopping-Plattform Taobao gibt an, 617 Millionen monatliche Nutzer zu haben – und Taobao ist nur eine von vielen Anlaufstellen, die Livestreaming zum Verkaufspush nutzen.

Livestreaming in China

Gaming war der Anfang

Im Westen gibt es wenig ähnliche Formate; allenfalls die Livestreaming-Plattform Twitch, auf der Computerspiele live übertragen werden und auf der man ebenfalls Geldgeschenke in Form von Tokens geben und erhalten kann. Auch in China wurde Livestreaming über Gaming-Plattformen bekannt, bevor die Beauty-, Mode- und die restliche Konsumgüterbranche das Potenzial für sich entdeckte.

Die bei uns bekannten Social-Media-Plattformen wie Facebook, YouTube, Instagram und Twitter haben in China kaum Bedeutung. Dort spielen andere Netzwerke eine Rolle. Da wäre natürlich WeChat, der Messenger mit Mini-Apps und integrierter Shopping-Funktion, den laut des Datenerhebungsportals Statista im letzten Quartal 2019 rund 1,15 Milliarden User nutzten.

Ebay und Facebook kombiniert

Das bereits erwähnte Taobao, das zum chinesischen Internetkonzern Alibaba gehört, ist die weltweit größte E-Commerce-Website und setzte 2018 ein Brutto-Warenvolumen von rund 1,5 Milliarden US Dollar um, wie Alizila, eine zu Alibaba gehörende Infoseite, verkündet. Man kann sich Taobao als eine Kombination aus einem vereinten Facebook und Ebay vorstellen. Nutzer können auf der C2C-Plattform Waren, die sie im Livestream sehen, direkt kaufen – jeden Tag werden in Livestreams rund 600.000 Produkte angeboten, wie Alizila berichtet.

Übrigens: Plattformen wie Taobao verkaufen nicht ausschließlich über Livestreams, sondern haben auch einen klassischen Online-Shop. Allerdings ist Social Shopping in China viel üblicher als bei uns – über Chat-Funktionen können Nutzer vorab Kontakt mit dem Verkäufer aufnehmen und sich auch mit anderen Usern austauschen. Taobaos B2C-Schwesterplattform heißt Tmall, sie ist in etwa vergleichbar mit Amazon – auch hier stehen Social Commerce und Livestreaming im Vordergrund.

Livestreaming in China

Liveshow zum iPhone-Launch

Lebensmittel, Mode, Autos: Ebenso breit gefächert wie das Angebot ist die Zielgruppe; auch wenn die Beauty- und Modebranche  dominiert. Bereits 2013 prognostizierte die Unternehmensberatung McKinsey ein starkes Wachstum der chinesischen Mittelklasse. Die gilt als besonders kaufkräftig. Auf Tmall finden sich übrigens auch zahlreiche internationale Marken wie Adidas oder New Balance.

Apple streamte zum Launch des iPhone X sogar eine eigene Liveshow auf tmall.com. 2016 übertrug Maybelline eine Pressekonferenz auf diversen Livestream-Plattformen und generierte damit rund fünf Millionen Views. Über ein Mini-Programm in WeChat bot L’Oréal 2018 ein eigenes Programm zum Filmfestival in Cannes an, für das die Beautymarke chinesische Stars auf dem roten Teppich begleitete und deren Make-up bewarb – Zuschauer konnten alle Produkte direkt in WeChat kaufen.

Zugegeben: Es ist nicht leicht, bei all den Zahlen den Überblick zu behalten – auch weil man, was die genauen Nutzerdaten betrifft, hauptsächlich den Plattformen selbst vertrauen muss. Immerhin diese Regel aber scheint für Unternehmen und Brands fest zu gelten: Was viel gestreamt wird, wird auch viel gekauft.

Livestreaming in China – eine Auswahl der wichtigsten Apps und Plattformen

Jingdong

JD.com ist eine Verkaufsplattform für Konsumgüter aller Art, von elektronischen Geräten bis hin zu Lebensmitteln, für chinesische, aber auch für internationale Unternehmen. Gegründet wurde das Netzwerk 1998, die Verkaufsplattform ging 2004 online. Über den Livestream können Zuschauer Produkte direkt in den Warenkorb legen. JD.com gilt als einer der größten Konkurrenten zu Alibaba.

Taobao

Taobao gehört zum chinesischen Internetkonzern Alibaba und gilt alsweltweit größte E-Commerce-Website. Auch Taobao erlaubt es Nutzern, Waren, die sie im Livestream sehen, direkt in den Warenkorb zu legen. Von Schuhen über Autos bis hin zu Schuldscheinen – all das wird auf der 2003 gegründeten C2C-Plattform verkauft. Influencer, die Produkte auf Taobao bewerben, werden „Taobao Daren“ genannt.

Tmall

Die B2C-Plattform gehört zu Taobao und damit ebenfalls zu Alibaba. Tmall bezeichnet sich selbst als „See now, buy now“-Plattform und bietet Brands gezielt Experiences wie Live-Shows an, die über Tmall ausgespielt werden und so zum Beispiel Produkt-Launches begleiten.

WeChat

Der zum Internetkonzern Tencent gehörende Messenger ist in China fester Bestandteil des alltäglichen Lebens. Denn WeChat ist nicht nur ein Kommunikationskanal, sondern lässt über In-App-Programme, sogenannte Mini-Programme, auch Shopping zu. Über diese In-Apps ist Livestreaming in WeChat möglich. „Tencent Live App“ richtet sich an Brands und Unternehmen, die einen Livestream-Channel ins Leben rufen wollen; über das „Tencent Live Mini Program“ kann man mit Livestreamern interagieren und chatten.

YY

YY wurde 2005, damals noch unter dem Namen Duowan.com, als Portal für Live-Gaming gelauncht, bevor es sich in eine Livestreaming-Plattform für quasi alle Bereiche entwickelte. YY ist im Vergleich zu Taobao eher privaterer Natur: User singen gemeinsam Karaoke oder besuchen E-Masterclasses. Trinkgeld wird in Form von Online-Tokens bezahlt, die wie kleine Rosen aussehen.

Mogujie

Die 2011 gelaunchte Plattform Mogujie, kurz Mogu, ist auf Mode spezialisiert und soll junge Frauen ansprechen. Im Livestream werden Klamotten anprobiert oder Schminktipps gegeben. Zuschauer interagieren mit den Hosts und stellen Fragen. Die chinesische Girl Group SNH48 hat eine eigene Livestream-Show auf Mogujie, in Shanghai experimentiert der Dienst außerdem mit einem Livestreaming-Store in der Xujiahui-U-Bahn-Station, wo Besucher als Teil einer Livestreaming-Show mit Produkten interagieren können.

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Über den Autor

Carsten Christian ist studierter Journalist und Kommunikationswissenschaftler, seinen Master-Abschluss hat er an der Uni Hamburg gemacht. Bevor er zur Agentur kam, war der Digital Native mehr als zwei Jahre für die Online- und Print-Ausgabe der Ruhr Nachrichten im Einsatz. Bei OSK arbeitet er als Team Lead Digital Content, auf dem Agentur-Blog schreibt Carsten über den Medienwandel und Trends im Bereich Digital-Kommunikation. Privat verfolgt er Neuigkeiten in der Videospiel- und Gaming-Szene und greift auch selbst zu Maus und Gamepad.

Dieser Artikel wurde vor mehr als einem Jahr veröffentlicht. Sein Inhalt ist möglicherweise nicht mehr aktuell.