Twitch, der Name ist Programm. Das englische Wort für „zucken“ ist eine Referenz an die Reflexe der Hauptzielgruppe dieses Streaming-Videoportals: Gamer. Auf Twitch können Spieler ohne technischen Aufwand eigene Partien live ins Netz übertragen, sich beim Zocken zugucken lassen, im Chat direkt austauschen und sogar Geld verdienen. Die Plattform hat Millionen von Nutzern, einzelne Livestreams erreichen immer wieder Zuschauerzahlen in Millionenhöhe. Wie konnte ein kleines, von Computerspiele-Liebhabern gegründetes Projekt in einem Zeitraum von drei Jahren derart erfolgreich werden?
Die Geschichte von Twitch beginnt 2007 in San Francisco mit der Gründung der Website Justin.tv, über die Nutzer ihre Videos per Livestream ins Internet stellen. 2011 wird die bis dahin erfolgreichste Sparte, der Livestream von Computerspielen, als Twitch ausgegliedert, Justin.tv selbst später eingestellt. Das Portal sammelt 2012 in einer ersten Finanzierungsrunde rund zwölf Millionen, im Jahr darauf weitere 20 Millionen US-Dollar. Schon damals erkannten die Investoren das enorme Potenzial von Twitch.
Ende August 2014 – das Unternehmen ist noch keine drei Jahre alt – kauft Amazon Twitch für 970 Millionen US-Dollar. Gerüchten zufolge war auch Google an der Plattform interessiert. Twitch bleibt unter der eigenen Marke unabhängig von Amazon und verdient über Abonnements und Werbung Geld. Kurz vor dem Deal schaffte das Unternehmen es mit rund 100 Millionen Zugriffen erstmals in die Top Ten des IVW-Online-Rankings.
Ein Grund für den Kauf war, dass Amazon sich über Twitch den Zugang zum stetig wachsenden Videospielemarkt sichern wollte. Der Marktforscher IHS hat im Juni 2014 prognostiziert, dass Nutzer im Jahr 2018 6,6 Milliarden Stunden Videospiele konsumieren werden. Als Teil von Amazon Prime können Amazon-Kunden Streams ohne Werbung sehen, wenn sie ihr Nutzerkonto mit ihrem Twitch-Account verbinden.
Der Amazon-Deal wirkte wie ein Katalysator auf die Szene. YouTube schickte im Sommer 2015 das Livestreaming-Portal YouTube Gaming als Antwort auf Twitch ins Rennen. Zu dieser Zeit kaufte der Medienkonzern Modern Times Group für 78 Millionen Euro die Mehrheit an Electronic Sports League (ESL), größter Veranstalter von E-Sport-Turnieren mit Sitz in Köln.
Boombranche E-Sport
E-Sport, die Abkürzung für elektronischer Sport, bezeichnet das wettbewerbsmäßige Spielen von Computer- und Videogames, unabhängig von Genre, Plattform und Technik. Als E-Sportler gilt, wer über PC oder Konsole nach Regeln gegen andere antritt. Große Turniere locken Tausende Besucher an, weitere Millionen verfolgen die Partien an ihren Bildschirmen. Portale wie Twitch oder YouTube ermöglichen laut ESL-Chef Ralf Reichert, professionelle oder semiprofessionelle Produktionen an den Zuschauer zu bringen.
Dota 2 – Computerspielen als Massenevent
Im Juli 2014 ging es beim Dota-2-Turnier „The International“ bereits um Preisgelder von mehr als fünf Millionen US-Dollar. Die Sieger erhielten umgerechnet jeweils rund 740.000 Euro. Mehr als die deutschen Nationalspieler, die in Brasilien für den WM-Sieg 300.000 Euro ausgezahlt bekamen. 2017 betrug das Preisgeld für das sechsköpfige Siegerteam 10,8 Millionen US-Dollar. Tickets für die 10.000 Zuschauer fassende Arena in Seattle, dem Austragungsort des Turniers, kosteten für Vorrundenspiele 100 und in der Finalrunde bis zu 200 US-Dollar. Insgesamt hielt der Preistopf über 24 Millionen US-Dollar bereit. Dazu kommen Einnahmen durch die internationale Live-Übertragung in zehn Länder mit insgesamt mehr als 40 Millionen Zuschauern.
PietSmiet, Gronkh oder PewDiePie – die Stars der Szene als wichtigste Werbebotschafter
Laut Matthijs Dierckx vom Spieleentwickler Ludomotion war früher die Spielepresse der heilige Gral, um Aufmerksamkeit zu bekommen, heute seien es eher die Streamer. Hersteller und Entwickler hoffen auf eine Empfehlung oder zumindest auf einen Auftritt ihres Spiels auf Twitch oder YouTube. Gaming und Livestreaming sind für Firmen und Sponsoren zum Milliardengeschäft geworden.
Das Besondere an Twitch ist der ausgeprägte Livecharakter. Er entsteht durch den direkten Austausch zwischen Zuschauern, Gamern und Moderatoren im Chat. Konsumenten werden zu Beteiligten, die das Geschehen beeinflussen, wenn etwa Spieler Kommentare und Community-Vorschläge direkt umsetzen. Je besser das Zusammenspiel der einzelnen Funktionen technisch umgesetzt ist, desto authentischer auch das „Live-Gefühl“.
Viele User wollen via Twitch von den besten Spielern lernen oder sich ein Spiel im Stream genau ansehen, bevor sie es kaufen. Für Hersteller ist die Plattform daher als kostenloses Testfeld beziehungsweise als Werbefläche spannend. Twitch ist jedoch nicht nur als Kommunikationsplattform für die Nutzer selbst interessant, sondern auch für Kunden aus der Wirtschaft und ihre Kommunikationsziele. Neben den Gaming-Kanälen gibt es immer mehr Livestreams, die sich mit Themen wie Kochen, Kunst oder Musik befassen. Seit 2017 hat Twitch einen Standort in Hamburg. Von hier aus sollen die kommerziellen Aktivitäten und Kundenbeziehungen in Kontinentaleuropa ausgebaut und intensiviert werden.
Nach Unternehmensangaben kam Twitch in Deutschland im Januar 2017 auf über zwei Milliarden Zuschauerminuten. Konzerne wie Paramount Pictures, Nike und Red Bull schalten Kampagnen, um das deutsche Publikum zu erreichen. Werbung wird entweder in die Streams der Gamer eingebettet oder in Kooperation mit Twitch auf einem eigenen Kanal platziert. Im April 2015 ließ Old Spice für die Kampagne #twitchplaysoldspice einen Protagonisten drei Tage lang durch einen Wald laufen und ihn an vorbereiteten Events und Aktionen teilnehmen – via Twitch-Chat von den Zuschauern gesteuert.
Twitch funktioniert demnach auch für Marken außerhalb der Gaming-Szene als Kommunikationskanal. Essenziell ist jedoch, dass sich Unternehmen an der Tonalität und den Regeln des Dienstes orientieren. Jung, live, interaktiv. Der Livestream einer Pressekonferenz wird hingegen wahrscheinlich kaum Zuschauer finden. Die Vorzüge von Twitch – Chat-Funktion und Echtzeitcharakter – bergen gleichzeitig Risiken für das Image von Marken, weil sie zu negativer Publicity führen können. Etwa durch unangemessenes Verhalten oder heikle Kommentare der Beteiligten. Ein Risiko, das Social-Media-Kanälen grundsätzlich eine Unberechenbarkeit verleiht.
Das Risiko gering zu halten, sollte Teil jeder Kommunikationsstrategie sein, um sich die Authentizität, Emotionalität, Gleichzeitigkeit und Interaktion ausschließlich positiv dienstbar zu machen. Über Twitch und Co können Zielgruppen erreicht werden, die sich den klassischen Medien wie Print, Hörfunk und TV zunehmend entziehen beziehungsweise längst entzogen haben.