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Holger Rust, Professor für Wirtschaftssoziologie, führt die Diskussion um den vermeintlichen Statusverlust des Autos sehr differenziert. In seinen zwei weltweit angelegten Studien zum Thema “Jugend und Auto” betrachtet er die Entwicklung durch die globale Brille und deckt spannende Zusammenhänge auf. OSK hat mit ihm darüber gesprochen.

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Prof. Dr. Holger Rust (* 1946) ist Professor für Wirtschaftssoziologie. Der Wissenschaftler und Berater ist auch als Publizist (“Strategie? Genie? Zufall?” und “Fauler Zahlenzauber”) sowie als Kolumnist des Harvard Business Manager bekannt.

Stefan Schrahe: Herr Professor Rust, verliert das Auto unter jungen Menschen an Bedeutung?

Prof. Dr. Holger Rust: Befragt man großstädtisch geprägte, junge Menschen unter 21 Jahren nach der Bedeutung von Konsumgütern, spielt das Auto tatsächlich eine nachgeordnete Rolle, und andere Dinge wie die Wohnungseinrichtung sind wichtiger. Man darf dabei aber die Rahmenbedingungen nicht außer Acht lassen. Längere Ausbildungszeiten, eine nach hinten geschobene Familiengründung, befristete Arbeitsverträge und hohe Mieten in Innenstadtbereichen prägen heute den Lebensalltag vieler junger Menschen. Ein Kontext, in dem das Auto zunächst seine Funktionalität verliert. Interessant ist aber: Befragt man dieselben Menschen über ihre Zukunft, Familie und eine Zeit, in der Geld nicht mehr die einschränkende Rolle spielt, gewinnt das Auto seine Funktion zurück. Für junge Menschen bleiben Autos Beigaben eines vom Konsum her gesehen erfüllten Lebens.

Muss es dabei das eigene Auto sein? Es gibt doch den Trend “Nutzen und Teilen statt Besitzen”?

Zweifellos gibt es diesen Trend. Und sicher haben viele Menschen in europäischen Städten genug davon, ständig Parkplätze suchen zu müssen. Aber ganz so linear verläuft die Entwicklung nicht. Carsharing hat vorwiegend pragmatische Ursachen und ist ein reines Großstadtphänomen. Dabei haben wir festgestellt, dass den Nutzern die Marken der Carsharing-Autos keineswegs egal sind – ob Mini, Smart oder Koreaner macht einen gewaltigen Unterschied. Das Thema Status bleibt implizit mit dem Thema Mobilität verbunden. Vor allem, wenn wir das Thema aus einer globalen Perspektive betrachten.

Welche Entwicklungen können Sie da identifizieren?

In chinesischen Metropolen steht man lieber mit der Langversion von Mercedes oder Audi im Stau, als sich in die U-Bahn zu zwängen – was ausschließlich mit dem Status zu tun hat. Wenn es in Indien nur um Mobilität und nicht um Status ginge, hätte der Tata Nano ein Erfolg sein müssen. Wir gehen davon aus, dass die Bedeutung des Autos in den nächsten zehn Jahren weltweit eher steigen wird. In Schwellenländern ist es eher eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung – etwa in Indien, China oder Brasilien. Nirgendwo ist die Statusbedeutung des Autos so hoch wie in Russland. Dabei gibt es nirgendwo so viele Staus wie in Moskau.

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Sehen Sie denn in den etablierten Märkten so etwas wie einen postmaterialistischen Bedeutungsverlust des Autos?

Historisch gesehen hat die Status-Bedeutung in den etablierten Märkten eher zugenommen. Dieser Zuwachs kommt im Wesentlichen von Frauen, die sich in dieser Hinsicht den Männern angleichen. Vor 30 Jahren war ein VW Passat ein funktionaler “Pampers-Bomber”. Heute müssen Kombis vor allem Eleganz ausstrahlen. Das am stärksten wachsende Segment im Pkw-Markt sind die SUVs. Früher waren das reine Gebrauchs-, Bauern- und Förster-Fahrzeuge. Welche Status-Bedeutung diese Fahrzeuge heute haben, lässt sich jeden Morgen vor Grundschulen und Kindergärten beobachten. Aber es gibt noch weitere Trends: Die Tuning-Szene wächst und ist international. In Amerika ist etwa die “Import Car Scene” sehr populär, die Elemente der Manga-Comics und aus Computerspielen aufgreift. Eine Bewegung, die von Jugendlichen der dritten Generation asiatischer Einwanderer ausging. Aufgemotzte Mazda RX-7, Nissan Skyline GT-R und Mitsubishi Lancer Evolution sind dort Kultfahrzeuge. Auch in Deutschland gibt es eine innerstädtische Szene, für die individualisierte Autos von zentraler Bedeutung sind. Die Oldtimer-Szene ist weltweit vor allem in finanzkräftigen Schichten verortet und verzeichnet nicht nur Wertzuwächse. Auch die Zahl der zugelassenen Oldtimer nimmt ständig zu.

Aber die ökologische Sensibilität nimmt doch ebenfalls ständig zu. Hat das keinen Einfluss auf den Status? Ist man da als Autofahrer nicht irgendwann stigmatisiert?

Der ökologische Faktor hat zwar unter jungen Menschen Bedeutung, aber keine erstrangige. Das lässt sich auch an dem Trend ablesen, Dinge wie Smartphones, die noch funktionsfähig sind, zu entsorgen, sobald es etwas Neues gibt. Welche alternativen Antriebe oder Lösungen die Mobilität morgen antreiben könnte, interessiert junge Leute kaum. Sie spiegeln nur das wider, was im Augenblick in den Medien diskutiert wird. Die Haltung ist: Die Industrie soll sich darum kümmern, Lösungen auf den Markt bringen, und wir werden sehen, ob wir das annehmen oder nicht. Es gibt keine technologischen Präferenzen. Es passiert das Gegenteil. BMW versucht mit hochpreisigen Fahrzeugen, Elektromobilität über Status zu etablieren. Weil Status funktioniert. Aber auch das ökologische Statement schafft ja letztlich nichts anderes als einen neuen Status – etwa im Sinne von “political correctness”. So geschehen mit den Hybrid-Modellen von Toyota in den USA. Laut Aussage von amerikanischen Analysten gilt der Toyota Prius dort als “the ultimate status symbol in eco-luxury”.

Was als Status verstanden wird, kann sich also ändern?

Das Beispiel Toyota zeigt: Status ist nicht eindimensional mit dem monetären Wert eines Produkts verbunden, sondern eine frei flottierende Währung, die sich innerhalb einer Produktkategorie auf veränderliche Dinge beziehen kann. Das sehen wir auch in vollkommen anderen Branchen. So kam vor etwa vier Jahren jemand auf die Idee, eine Rolex GMT Master ins Netz zu stellen, an der das charakteristische Metallgliederarmband entfernt und durch ein billiges Stoffarmband, das so genannte NATO-Strap, ersetzt worden war. Eine Kaskade kam in Gang: Mittlerweile ist die Rolex mit NATO-Strap zum Modeobjekt geworden. Tudor, die Zweitmarke von Rolex, rüstet die “Heritage-Chrono” schon im Verkaufsprospekt damit aus. Das Motiv, das dahinter steht, könnte man als “Brechung von Klassik” bezeichnen. Es ist weltweit häufig zu finden – in informellem Wohnungsdesign, der Verwendung von Gebrauchtmöbeln oder dem Stolz auf Gebrauchsspuren, etwa bei löchrigen Jeans. Es findet sich auch im Automobilbereich: Auf einer Auktion im Januar 2014 wurden zwei schwarze Mercedes 300 SL aus dem Baujahr 1956 versteigert. Ein komplett durchrestauriertes Exemplar und ein Fahrzeug mit Gebrauchsspuren von 60 Jahren. Das Auto mit der Patina hat mit 1,4 Millionen einen um 400.000 Euro höheren Preis erzielt.

Wodurch verändert sich das, was wir unter Status verstehen? Welche Mechanismen liegen dem zugrunde?

Da hat in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Trends für Statussymbole werden heute vor allem über das Web definiert. Das ist das Ergebnis der bildhaften Kommunikation, die weltumspannend in Abermillionen Blogs, Social-Media-Aktivitäten und Websites unser Leben immer mehr bestimmt. Die Technologie ermöglicht schnelle Verständigungen über ästhetische Beigaben des Lebens. Junge Leute tragen wieder Hüte, und bestimmte Formen des Wohnens ähneln sich weltweit in gewissen Milieus. Klappfahrräder aus den Siebzigern – ohne Gangschaltung – gelten plötzlich als cool. Blogs wie “FreundevonFreunden” pflegen und verbreiten Stile weltweit – verändern sich dabei aber in jeder Sekunde. Die Entwicklungs- und Geschmackskulturen im World Wide Web zeigen, dass jederzeit in der nächsten Sekunde etwas passieren kann, was die gesamte Welt verändert. Plötzlich taucht irgendwo ein Produkt auf, das zu einem kanonischen Leitbild wird wie die als Werkstattlampe entworfene “Loft” aus den 50er Jahren von Jielde.

Allein Tumblr hat nach eigener Aussage im Februar 2014 über 170 Millionen Blogs. Dazu kommen Netzwerke wie Pinterest und andere. Davon drehen sich grob geschätzt 35 oder 40 Millionen Blogs um Mode und Ästhetik. Täglich werden zig Millionen Bilder gepostet. Inhaltsanalysen zeigen darin das Auto als unverzichtbare ästhetische und designorientierte Beigabe eines schönen Lebens. Eines der meist geposteten Automodelle ist der Porsche 356 – eine Design-Ikone der 50er/60er Jahre. An solchen Vorstellungen orientieren sich modische Strömungen, weniger an technologischen.

Das, was zukünftig Status definiert, ist also primär von Ästhetik und nicht von Technologie getrieben?

So ist es. Ein neuer ästhetischer Standard gepaart mit einfacher Bedienung kann einen Paradigmenwechsel bewirken – und neue Definitionen von Status schaffen. Die Erfolgsstory von Apple liefert den Beweis. Sie zeigt, dass ein neuer Standard zwar sowohl funktional wie technologisch, vor allem aber ästhetisch gesetzt werden muss. Das kann sogar unbeabsichtigt passieren: Dass zu einer kulturellen Entwicklung ein Produkt identifiziert wird, das keiner wirklich ersonnen oder nachgefragt hat, aber diese kulturelle Entwicklung in sich aufnimmt. Mit dieser Form umgekehrten Marketings müssen wir leben – Geschmacksentwicklungen werden zunehmend anarchisch und kaum noch vorhersehbar. Aber auch inspirierend.

Wie kann ein Automobilhersteller sich auf die verändernden Bedeutungsinhalte von Status einstellen?

Mich überrascht die Gleichförmigkeit der Zukunftsideen. Kunden sollte man dazu nicht fragen, weil die nicht wissen, was möglich ist. Und auch Big Data und Hardcore-Mathematik kommen da an ihre Grenzen, wo kulturelle Dynamik sich eigenständig entwickelt. Wirtschaftliche Abenteuer und Reichtümer liegen aber jenseits dieser Grenze. Vor zehn Jahren hätte keine Trendanalyse oder Kundenbefragung nach einem Mobiltelefon ohne Tastaturfeld verlangt. Die Industrie muss den Mut haben, technologische Lösungen auf kulturellen Grundlagen zu ersinnen und Fragen zu stellen, die tiefer gehen: Welche Grundbedürfnisse sollen eigentlich erfüllt werden? Eine mögliche Antwort könnte sein, Autos zu Mobilitätskonzepten zu transformieren. Aber eben nur eine. Kritisch sehe ich den Weg in die “Google-isierung” oder “Apple-isierung”. Die Übertechnisierung der Fahrzeuge erzeugt eine Blase. Wenn weiter so technologiegetrieben gearbeitet wird und ununterbrochen Innovationen folgen, hat ein Auto keinen Wiederverkaufswert mehr. Ein Auto, das zu 50, 60 Prozent als Computer durch die Gegend fährt, ist in wenigen Jahren völlig veraltet. Und vernichtet damit Werte.

Wenn die Status-Bedeutung des Autos sich zwar verändert – aber eben eher zunimmt: Wie erklären Sie sich, dass in den Medien häufig das Gegenteil stattfindet?

Die Meldung, dass ein Gegenstand wie das Auto, das seit mehr als 50 Jahren für die Kernkompetenz der Industrie und für diese Gesellschaft, die Kultur und die Wirtschaft steht, seinen Status verliert, wirkt natürlich besonders dramatisch. Aber daraus abzuleiten, dass sich Dinge tatsächlich fundamental ändern, ist eine zu oberflächliche Interpretation. Man bedenke: Viele Studien und Veröffentlichungen haben primär das – durchaus legitime – Ziel, öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Ein Beispiel: Weniger als 0,5 Prozent der Bevölkerung ernähren sich vegan. Aber der Anteil der Artikel über vegane Ernährung in der Food-Berichterstattung liegt bei 20 Prozent. Inhalte, die die alte Ordnung in Frage stellen, sind immer willkommen. Insofern ist die Berichterstattung über den Statusverlust des Autos aus meiner Sicht vor allem eins: ein Medienhype!

Vielen Dank für das Gespräch!

Den ersten Teil zum Thema “Jugend und Autos – Ende einer Liebesbeziehung” lesen Sie hier.

Dieser Artikel wurde vor mehr als einem Jahr veröffentlicht. Sein Inhalt ist möglicherweise nicht mehr aktuell.