tl;dr (Lesezeit 8 Minuten)
- Vasily Gatov ist russischer Medienforscher und Senior Fellow am USC Annenberg Center on Communication Leadership & Policy
- Seiner Meinung nach gibt es für den Begriff Qualitätsjournalismus keine generelle Definition. “Was wichtig für den amerikanischen Qualitätsjournalismus ist, mag für chinesische Medien kein Thema sein.”
- In der Einnahme des öffentlichen Raumes durch soziale Medien sieht Gatov ein Problem. Denn plötzlich würden Menschen Facebook oder Twitter als journalistische Quellen verwenden, wodurch den Netzwerken eine größere Rolle als ethischen Medien zugeschrieben werde.
- Statt zumindest teilweise Anführer des technologischen Wandels zu sein, seien die Massenmedien zum verspäteten Benutzer der Technologie geworden. “Sie müssen verstehen, dass der Konsument viel flexibler im Umgang mit Technologien geworden ist – er will Inhalte schnell zur Verfügung gestellt bekommen, egal, wo er gerade ist.”
- Gatov findet, dass Print als Medienkanal heute unterschätzt wird.Vor allem im Lokalen sieht er viel Potenzial.
Wer es bisher noch nicht registrierte, weiß es spätestens seit dem Sieg der amerikanischen Präsidentschaftswahl und dem massiven Twitter-Einsatz von Donald Trump: Die sozialen Netzwerke krempeln den Nachrichtenmarkt massiv um. Und das nicht nur in den USA: Wir haben mit Vasily Gatov, Vorstandsmitglied der World Association of Newspapers and News Publishers WAN-IFRA, über die neuen, weltweiten Anforderungen für Journalisten gesprochen.
Er ist in Moskau geboren und hat in Russland als Reporter, Redakteur, Manager, Medienstratege und Medienbesitzer gearbeitet – Vasily Gatov kennt die Medienlandschaft in seinem Land wie seine Westentasche. Den Blick über den Tellerrand bewahrt er sich trotzdem: Denn Gatov lehrt an der University of Southern California zur Zukunft des Journalismus und sieht einen fundamentalen Wandel auf den Journalismus alter Prägung zukommen, weil der Konsument weitaus flexibler sei als die Branche selbst. Milliarden Menschen nutzen weltweit Facebook, Snapchat und Co, viele davon bewerten soziale Medien als seriöse Quelle. Daraus erwächst eine neue Aufgabe für den Qualitätsjournalismus: „Er muss nicht nur Nachrichten sammeln und verbreiten, sondern vermehrt auch bereinigen.“
Gleichwohl glaubt Gatov, dass die grundlegenden Tugenden des Journalismus – die exakte Recherche vor Ort, das Zuhören und Nachhaken sowie ein für das jeweilige Medium optimiertes Erzählen – nach wie vor Bestand haben werden. Verändert haben sich größtenteils die Kanäle und die technischen Möglichkeiten der Erzählungen, weniger das grundlegende journalistische Handwerkszeug. Zu den vier klassischen Elementen – Sammeln, Verarbeiten, Nachhaken und Veröffentlichen – ist das Bereinigen gekommen.
Vasily Gatov
Russischer Medienforscher und Senior Fellow am USC Annenberg Center on Communication Leadership & Policy
Twitter: @vassgatov
Facebook: Vasily Gatov
LinkedIn: Vasily Gatov
1. Wie zeichnet sich Qualitätsjournalismus in Zukunft aus und was schadet ihm?
Da gibt es keine generelle Definition. Was wichtig für den amerikanischen Qualitätsjournalismus ist, mag für chinesische Medien kein Thema sein. Persönlich sehe ich die Rolle des Journalismus heute als Filter im Informationsüberfluss, der einen möglichst wertfreien Überblick über die Tagesthemen gibt – zusammen mit einer ethischen Interpretation der Ereignisse.
Viele Journalisten lassen sich zu sehr von der Technik treiben.
Die größte Bedrohung für den Qualitätsjournalismus sind das fehlende Verständnis dieser Aufgabe und der Mangel an Selbstbestimmung. Viele Journalisten lassen sich zu sehr von der Technik treiben, anstatt eigene Entscheidungen zu treffen. Wenn Journalisten in den Massenmedien zu technisch arbeiten, Informationen nur noch sammeln und verbreiten, ist das zu wenig. Eine der wichtigsten Aufgaben, die das 21. Jahrhundert für die journalistische Arbeit gebracht hat: Zu den vier klassischen Elementen – Sammeln, Verarbeiten, Nachhaken und Veröffentlichen – ist das Bereinigen gekommen. Heute und in den nächsten Jahren ist es wichtig, Lösungen zu entwickeln, die es verhindern, dass aus bösartigen Gründen gefälschte Nachrichten Verbreitung finden. Mark Zuckerberg reagierte schnell und kündigte wenige Tage nach der Wahl von Donald Trump und der Diskussion rund um die Verbreitung von Falschmeldungen auf Facebook erste Maßnahmen an. Es sei ihm wichtig, dass die Nutzer schnell und einfach potenzielle Falschmeldungen im Netzwerk markieren und entlarven können. Zudem möchte Zuckerberg verstärkt mit unabhängigen externen Journalisten zusammenarbeiten, um mehr von ihren Nachrichten-Kontrollsystemen zu lernen. Aus meiner Sicht ist es ein unumgänglicher Weg sowohl für Facebook als auch die Konsumenten.
2. Was sind die großen Trends im Journalismus und was wird sich davon künftig durchsetzen?
Ich sehe nur einen Trend: das Auswerten. Wie es schon einmal im und nach dem Zweiten Weltkrieg wichtig war. Heute kommt die Gefahr weniger aus Richtung organisierter Propaganda, sondern von den Millionen Autoren und Verteilern. Dies ist gerade dort, wo soziale Medien die Rolle des öffentlichen Raumes eingenommen haben, sehr problematisch. Plötzlich verwenden Menschen Facebook oder Twitter als journalistische Quellen – und diese werden wichtiger als ethische Medien. Wir sehen das gerade deutlich bei Donald Trump in den Vereinigten Staaten: Er hat seine Posts in den sozialen Netzwerken genutzt, um die etablierten Medien dazu zu bringen, seine Sicht zu verbreiten. Soziale Netzwerke können eine enorme Macht ausüben: Wo es vorher redaktionelle Prüfungen gab, ist plötzlich nur noch eine Person für die Veröffentlichung von Inhalten und Meinungen zuständig.
3. Wie und wo recherchieren Sie nach guten und spannenden Inhalten?
Soziale Medien sind auf jeden Fall keine echte Quelle. Sie sind ein angenehmes Instrument, um schnell lokale Informationen zu finden und zu prüfen. Das Problem ist aber genau diese Bequemlichkeit: Man tendiert dazu zu vergessen, dass man die physische mit der digitalen Realität verbinden muss – nicht umgekehrt.
Recherchequelle muss immer die reale Person sein, nicht ihre Medienpräsenz. Nicht, weil digitale Profile eine Täuschung sein könnten oder Teil eines künstlerischen Projekts, sondern weil das Leben nun mal nicht in den sozialen Netzwerken stattfindet, sondern draußen in der realen Welt.
4. Was muss man als Journalist künftig tun und können, um gelesen und wahrgenommen zu werden?
Eine der großen Stärken von Qualitätsjournalismus ist die eigentliche Geschichte, die Story. Journalisten müssen jeden Aspekt ihrer Arbeit als Geschichtenerzähler verstehen. Sie müssen präzise und exakt sein in der Art, wie sie die Geschichte erzählen, aber auch, wie sie von verschiedenen Menschen verstanden werden könnte.
Ein zweiter Aspekt ist der Übertragungsweg. Es gibt Dinge, die sich am besten als Interview und eben nicht aus der Ich-Perspektive erzählen lassen. Manche Geschichten sind perfekt dafür, aufgeschrieben zu werden, andere hingegen eignen sich besser fürs Fernsehen. Daher würde ich eine gemäßigte Form des Satzes von Marshall McLuhan bestätigen: Das Medium ist die Botschaft. Bedeutet: Journalisten müssen über ihr Medium nachdenken. Es existieren heute so viele Informationskanäle, dass gar nicht alle parallel genutzt werden können. Vielleicht lassen sich über Instagram und eine auf den Kanal zugeschnittene Erzählung zusätzliche und neue Zielgruppen erreichen. Nur muss eben vorher geprüft werden, ob der Inhalt in dieser Verpackung überhaupt korrekt transportiert werden kann und nicht entscheidende Informationen durch die Nutzung eines bestimmten Mediums verloren gehen.
Mobiles Internet, immer leistungsfähigere Smartphones, neue Nachrichtendienste: Die Medienlandschaft verändert sich rasant und mit ihr der Journalismus. Viele Fragen bewegen die Branche: Ist die Tageszeitung ein Auslaufmodell, weil die jüngeren Zielgruppen aktuelle Nachrichten nur noch auf mobilen Endgeräten konsumieren? Erledigen bald Schreibroboter typische Routineaufgaben und machen damit einen Teil der Redakteure überflüssig? Mit welchen neuen journalistischen Darstellungsformen können Menschen erreicht werden, die immer weniger lesen und nur noch Bilder anschauen? Gemeinsam mit Journalisten und Medienmachern aus ganz unterschiedlichen Richtungen wagt OSK einen Blick in die Zukunft des Journalismus. Das Prinzip ist immer das gleiche: acht Fragen, acht Antworten. Stück für Stück entsteht so ein Bild, das belastbare Aussagen zu entscheidenden Trends von morgen und übermorgen ermöglicht.
5. Die technologischen Veränderungen sind rasant – wie müssen sich vor diesem Hintergrund der Journalismus verändern und dessen Anbieter anpassen?
Massenmedien wie Radio, Fernsehen und Print waren ein wichtiger Antreiber für die technische Entwicklung im 21. Jahrhundert. Plötzlich war da besserer Sound, präziserer Druck, ein schärferes Bild. Mit anderen Worten: Es waren die Massenmedien selbst, die die technischen Veränderungen vorangetrieben haben. Das Internet als Technologie ist außerhalb von Medieninvestitionen entstanden. Der Unterschied zur Epoche des Internets ist, dass nun die Massenmedien der technischen Veränderung des Internets folgen müssen. Statt zumindest teilweise Anführer des technologischen Wandels zu sein, wurden die Massenmedien zum verspäteten Benutzer der Technologie. Sie müssen verstehen, dass der Konsument viel flexibler im Umgang mit Technologien geworden ist – er will Inhalte schnell zur Verfügung gestellt bekommen, egal, wo er gerade ist. Die Anbieter müssen sich an seine Nutzungsgewohnheiten anpassen. Zum Beispiel könne sich das TV-Gerät künftig merken, ob man die Nachrichten einmal am Tag in Gänze sehen möchte oder über den Tag verteilt als kurze Videos, zu denen man Updates abonnieren kann. Die Anbieter müssen die verschiedenen Formate dann für den jeweiligen Nutzer zur Verfügung stellen.
6. Wie verdient der Großteil der Medien künftig Geld?
Von den drei wesentlichen Einkommensquellen – Ausgaben der Verbraucher, Werbung und Einkommensbeteiligung an der technischen Verbreitung – wird die letzte immer wichtiger. Gemeint sind damit die Verbreitung über Kanäle wie Facebook oder Google und die Beteiligung der Anbieter an den Werbeeinnahmen. Für Facebook ist es wichtig, den Guardian in ihrem Feed zu haben, für den Guardian ist es wichtig, Facebook als Verbreitungskanal zu nutzen.
7. Wie sehen Ihrer Ansicht nach journalistische Inhalte und die Angebotslandschaft in fünf Jahren aus?
Es wird immer wichtiger zu wissen, wer die Konsumenten sind. Wenn ein Journalist weiß, dass der Bürgermeister, der Leiter der lokalen Polizei oder ein Schulkomitee seine Geschichte gelesen haben, kann das in sozialer Hinsicht ebenso wichtig sein wie eine Million „normaler“ Leser. Im industriellen Zeitalter lautete der soziale Vertrag zwischen den Massenmedien und der Gemeinschaft: Informiert uns alle, damit unsere Entscheidungen eine vernünftige Basis haben. In der modernen Informationsgesellschaft funktioniert die Massenverteilung in der klassischen Form nicht mehr: Jede Nachricht, die das Internet erreicht, ist öffentlich zugänglich und betrifft eine unbestimmte Zahl von Menschen. Es ist daher wichtig zu wissen, ob man diejenigen erreicht hat, die die Macht haben, ein Problem zu lösen. Digitale Lösungsansätze hierfür werden wichtiger – und es war noch nie so einfach jene zu entwickeln und zu optimieren.
Ein Teil des zukünftigen Medienkonsums lässt sich jedoch nicht vorhersehen. Wir wissen einfach noch nicht, wie zum Beispiel Geschäftsmodelle etwa zur virtuellen Realität funktionieren. Die größte Chance liegt hier meiner Meinung nach in Technologien und Formaten, die von den Massenmedien noch nicht umgesetzt werden: So können etwa vernetzte Fernsehgeräte und Tablets Bestandteile des Fernsehnutzungsverhaltens effektiv aufzeichnen – von speziellen Meinungen über die konsumierten Inhalte bis zu allgemeinen Aufmerksamkeitsmustern. Theoretisch wäre es möglich, einen Zuschauer oder sogar einen Leser mit dem Ende einer Geschichte zu beliefern, das ihm am besten zusagt. Die meisten traditionellen Medien setzen solch innovative Tools aber nicht als Innovationsführer um. Sie tendieren eher dazu, sich auf eine Handvoll Fortschrittsanführer wie die New York Times oder den Guardian zu verlassen. Der wesentliche Punkt des Überlebens in der Medienindustrie ist aber das Experiment, nicht die Kopie.
Ich sehe ein gewaltiges ungenutztes Potenzial bei den lokalen Medien.
Wenn es darum geht, welcher Medienkanal heute am meisten unterschätzt ist, würde ich Print sagen. Ich sehe ein gewaltiges ungenutztes Potenzial bei den lokalen Medien. Großflächige Kommunikation, ob national oder international, ist via Internet oder TV natürlich effizienter. Die lokale oder hyperlokale Kommunikation aber erreicht durch Print eine höhere Relevanz: Die Leser solcher Medien leben in derselben Umgebung, teilen alle ähnliche Probleme. Ihr Interesse wird geweckt, wenn lokale Medien so aktuell und relevant sind wie der Small Talk auf der Straße.
8. Welches Medium fehlt heute noch auf dem Markt?
Ein echtes Dialogmittel mit dem Konsumenten. Mein Gedanke reicht dabei jedoch weiter als Leserkommentare auf reddit oder auf Diskussionsforen und Facebook. Der interaktive Dialog muss die gesamte Bandbreite moderner Technologie verwenden. Alles könnte ein Grund sein für den Dialog, etwa eine Push-Nachricht, die auf dem Smartphone aufpoppt, wenn ein politisches Ereignis die Reaktion der Bürger notwendig macht. Um ihr Publikum zu erreichen, müssen die Massenmedien ihr Verständnis der Funktionsweise von Medienwahrnehmung deutlich erweitern. Man muss eigene Antworten auf neue Fragen finden wie: Was sind die relevanten Themen für die Leser und wie gelangen diese Themen an die Rezipienten in dem Moment, in dem sie darüber diskutieren möchten?