Prof. Dr. Christian Jarchow leitet bei der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) den Bereich der Qualitativen Forschung. Davor hat er bei der GfK den Bereich Digital Research aufgebaut. Jarchow gehört zu den Pionieren der digitalen Marktforschung in Deutschland und war unter anderem als Managing Director bei Pixelpark, Research International und forsa tätig. Darüber hinaus ist er Professor für Wirtschaftspsychologie an der GoBS – Hochschule für Wirtschaft und Verwaltung in Berlin.
Kirsten Paul: In einer qualitativen Online-Studie haben Sie vor kurzem die Lebens- und Konsumwelt von Digital Natives beleuchtet und daraus Schlussfolgerungen zum zukünftigen Konsumverhalten dieser Generation gezogen. Welche neuen Bedürfnisse werden Konsumenten im Jahr 2020 haben?
Prof. Dr. Christian Jarchow: Es lassen sich hier ein paar recht sichere Entwicklungen vorhersehen, die bereits auch schon von anderen Sozialwissenschaftlern betont wurden. Zum einen beobachten wir eine abnehmende Frustrationstoleranz in der Gesellschaft, die sich darin spiegelt, dass Menschen sofortige Bedürfnisbefriedigung verlangen. Dies geht einher mit zunehmenden Bequemlichkeitswünschen. Dann kann man sicherlich annehmen, dass die Menschen in zehn Jahren narzisstischer sein werden als heute. Sie erwarten immer mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, etwas Besonderes zu sein. Neben dieser Tendenz zum Narzissmus kann sicherlich noch von einer weiter zunehmenden sozialen Erlebnisorientierung ausgegangen werden, die auch den Wunsch beinhaltet, unterhalten zu werden.
Welche Konsequenzen hat dies für die Entwicklung von Markenwelten?
Zukünftige Markenwelten müssen stärker die narzisstischen und Erlebnisbedürfnisse der Konsumenten berücksichtigen. Dies bedeutet, dass sie einerseits stärker zur Sinnstiftung und symbolischen Selbstergänzung beitragen, beispielsweise durch soziale Erlebnismöglichkeiten mit Freunden, und anderseits Faszination, Überraschung und Spaß vermitteln, da sich die Menschen der Zukunft schneller langweilen werden. Konzepte wie Gamification weisen hier in die richtige Richtung. Auch vor dem Hintergrund des Zerfalls der Gesellschaft in immer mehr Single-Haushalte erlangen gemeinsame, soziale Erlebnisse in externen Markenwelten eine neue soziale Funktion, die häusliche Kontakte kompensieren. Shoppen in attraktiven Markenwelten wird zu einer zentralen Form von Freizeitgestaltung und sozialer Begegnung.
Ganz konkret: Wie sieht ein Store im Jahr 2020 aus?
Durch das Internet verfügt der heutige und zukünftige Verbraucher über ein Höchstmaß an Transparenz und Wissen, was Unternehmen oder deren Produkte angeht. Dies bedeutet, dass die Kunden – auch vor dem Hintergrund zunehmender Anspruchshaltung – erwarten, auf Verkäufer zu treffen, die bestens informiert sind und sie ganz individuell beraten. Hierbei müssen wir jedoch zwischen Low- und High-Involvement-Produkten unterscheiden. Bei Low-Involvement-Produkten muss die Möglichkeit gegeben werden, diese schnell und bequem ohne Zeitverlust einzukaufen. Hierfür bieten sich webbasierte Einkaufsangebote an. Bei High-Involvement-Produkten muss aber ein besonderes Erlebnis vermittelt werden, bei dem der Einkauf ein soziales, sinnstiftendes Erlebnis ist. Dementsprechend sind dann auch die Produkte in den Shops zu inszenieren. Der stationäre Store wird als Erlebnisraum weiter neben dem Internet bestehen, wenn er soziale Erlebnisse vermittelt, die alle Sinne ansprechen oder narzisstische Exklusivitätsbedürfnisse vermittelt.
Welche Bedeutung kommt dabei der digitalen Technik zu, die irgendwann zu einer Vernetzung aller im Raum befindlichen Objekte, also einer Hyperlokalität führen wird?
Wir können davon ausgehen, dass in zehn Jahren Online- und Offline-Welt so verschmolzen sind, dass sie als Einheit erlebt werden. Für das Einkaufen in der Zukunft bedeutet dies, dass Tablets oder andere mobile Endgeräte zur Vorbereitung des Kaufes eingesetzt werden, beispielsweise bei der Vorauswahl der Produkte, die dann im Shop mit allen Sinnen genauer unter die Lupe oder wie bei Kleidung anprobiert werden. Hier wäre es vorstellbar, dass online, bevor das Geschäft betreten wird, bereits die Einkaufshistorie des Kunden in dem Produktfeld, gehen wir hier von Kleidung aus, übermittelt wird, so dass sich der Verkäufer optimal auf den Kunden einstellen kann. Möglicherweise wird er dann auch persönlich von einem Scanner am Eingang des Geschäftes begrüßt und mittels einer App zu dem Ort im Laden geführt, wo sich die vorausgewählten Produkte befinden. Im Shop macht ihm dann ein virtueller Spiegel weitere Kleidungsvorschläge, die dann von einem virtuellen Abbild des Kunden vorgeführt werden. Ferner könnten bei der Produktauswahl auch Freunde über Facebook einbezogen werden. Ebenso würde in diesem Shop die Bezahlung gleich bequem über das Smartphone, eine internetfähige Uhr oder Brille wie sie beispielsweise gerade Google entwickelt, durchgeführt werden. Schon bei den heutigen Digital Natives kann man beobachten, dass sie ihr Smartphone als Erweiterung des Selbst sehen, von der sie sehr abhängig sind. Diese Tendenz dürfte sich weiter verschärfen.
Werden Produkte künftig überhaupt noch real präsentiert werden? Und wenn ja, wie?
Da Menschen soziale Bedürfnisse haben und sie ihre Umwelt mit allen Sinnen erleben möchten, wird die physische Präsentation von Produkten weiterhin einen hohen Stellenwert behalten. Dies gilt insbesondere für Produkte, die eine hohe soziale Bedeutung haben und der symbolischen Selbstergänzung, der Sinnstiftung dienen. Hierzu gehören aber auch Produkte, für die es unerlässlich ist, dass ihre Qualität physisch über Tasten, Schmecken und Riechen geprüft und erfahren wird. So kann man sicherlich davon ausgehen, dass diese Annahme im Fashion-Bereich Gültigkeit haben wird. Ferner kann man annehmen, dass in den Shops nur noch eine kleine Auswahl von besonders trendigen und angesagten Produkten inszeniert wird, während die Präsentation der kompletten Produktpalette ins Web verlagert ist, wobei die Möglichkeit besteht, einzelne Produkte individuell im Netz zu konfigurieren. Und wie bereits oben gesagt, möchten die Konsumenten nicht nur stur auf Links klicken, sondern sich mit anderen Menschen treffen und Erlebnisse teilen. In diesem Sinne steht es eigentlich allen High-Involvement-Produkten offen, sich durch eine markenstimmige und faszinierende Offline-Präsentation zu profilieren.
Herr Prof. Dr. Jarchow, vielen Dank für das Interview!