Fünf nicht mehr ganz junge Erwachsene sitzen an einem Tisch und spielen ein Spiel mit Stift und Papier, in dem sie fiktive Charaktere einnehmen. Das Besondere an der Sache? 40.000 Menschen schauen zu. Und zwar live. Rocket Beans TV – kurz: RBTV – befindet sich auch anderthalb Jahre nach dem Start noch auf Erfolgskurs. Zehntausende schalten täglich auf dem Videoportal Twitch oder der hauseigenen Seite zu, auf YouTube erreichen die Videos weitere Hunderttausende. Seit Ende Mai übernehmen die Bohnen, wie sie sich nennen, außerdem täglich dreieinhalb Stunden Sendezeit von RTL II You, dem jungen Digitalportal der RTL-Gruppe. Der Schritt, der unter hartgesottenen Fans durchaus umstritten ist, ermöglicht es dem Unternehmen, eine noch größere Zuschauergruppe zu erreichen.
Wir haben mit Nils Bomhoff aus dem Rocket-Beans-Team gesprochen und uns erklären lassen, wie echte Interaktion mit dem Zuschauer aussieht, was er vom klassischen Fernsehen hält und wie sich Branded Content ehrlich verkaufen lässt. Was wir dabei gelernt haben: Der Online-Sender hat den Nerd neu definiert. Und ganz nebenbei das lineare Fernsehen revolutioniert.
Die Rocket Beans testen viele Formate aus, auf die sie einfach Lust haben. (Screenshot: Rocket Beans TV)
Rocket Beans TV ist ein Abenteuerspielplatz: Junge Menschen in kurzen Hosen und Turnschuhen zocken Computerspiele, spielen Brettspiele, stellen im „Buchklub“ ihre Lieblingsliteratur vor oder kommentieren jahrzehntealte Hörspiele. Ihrer Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt: Sie philosophieren über Fußball oder Fitness und rezensieren Kinofilme und Comics. Es gibt eine Beratungssendung in Zusammenarbeit mit Dipl. Psychologe Michael Thiel, und auch den Webvideopreis 2016 hat das Moderatorenteam der Rocket Beans präsentiert. Solchen Themen und Events nimmt sich die Truppe mit genauso viel Leidenschaft und Spaß an wie Gaming.
Dennoch ist Gaming ein zentraler Bestandteil. Ob auf der Konsole oder am PC, auf dem Brett oder eben mit Stift und Papier: Spiele, meist digitale, stehen im Mittelpunkt von Rocket Beans.
Rocket Beans gilt als Sender für Nerds. Den Begriff möchte Nils Bomhoff (Bild rechts) allerdings keinesfalls auf Technikfans begrenzen. „Nerd sein, das heißt ja eigentlich nur, dass jemand eine Leidenschaft für ein Thema hat und für etwas brennt. Die meisten assoziieren den Begriff mit Gaming und Technik.“ Das sei aber zu kurz gedacht. Und selbst wenn es so wäre – Gamer seien nicht eindimensional. „Sie interessieren sich für die unterschiedlichsten Dinge. Und die finden sie eben alle bei uns.“
2012 veröffentlicht der Sender die ersten Videos. Simon Krätschmer, Etienne Gardé, Daniel Budiman, Arno Heinisch und Nils Bomhoff produzieren damals die Videospiele-Show Game One, die auf MTV ausgestrahlt wird. RBTV fungiert als Sidekick: Alles, was das Game-One-Format sprengt oder erst getestet werden muss, läuft auf dem YouTube-Kanal der Wahl-Hamburger. Nachdem Game One im Dezember 2014 eingestellt wird, konzentrieren sich die Gründer vollends auf ihren Livestream-Kanal bei Twitch und auf YouTube. Die Devise: mehr Unterhaltung, weniger Spielekultur.
Das Team ist bei den Fans auch beliebt, weil es sich selbst nicht zu ernst nimmt. (Screenshot: Rocket Beans TV)
Rund um die Uhr sollen sich Livesendungen und aufgezeichnete Formate abwechseln. Zuvor müssen sie allerdings die Community um Hilfe bitten, denn auch Rocket Beans TV droht das finanzielle Aus, als das Fernsehformat ins Straucheln gerät. Die Gründer wenden sich mit einem Spendenaufruf an die Zuschauer. Mit Erfolg: Das Geld der Fans sichert einen mehrmonatigen Testlauf.
Die Unterstützung der Community ist ein wichtiger Pfeiler für die Rocket Beans. (Screenshot: Rocket Beans TV)
Dank Crowdfunding, Merchandising und Werbeeinnahmen steht der Sender heute auf eigenen Beinen und beschäftigt rund 60 Mitarbeiter. Um weitere Finanzierungsquellen zu erschließen, veröffentlicht Rocket Beans Sponsored Content. Sendungen, die von Unternehmen finanziert werden, kommen nicht immer gut an. Umso wichtiger war es für Nils Bomhoff, transparent und unabhängig arbeiten zu können. In der Sendung „Gadget Inspectors“ beispielsweise, die Vodafone finanziert, dürfen Bomhoff und seine Kollegen die Produkte selbst auswählen, die sie testen wollen. „Wir dürfen sagen, wenn irgendwas nicht funktioniert oder etwas schlecht ist. Und wir können es handwerklich umsetzen, wie wir wollen.“
Der Sender bietet nicht nur Gaming-Formate an. (Screenshot: Rocket Beans TV)
Bomhoff ist sich sicher, dass Branded Content nur so erfolgreich sein kann. „Alles andere merken die Zuschauer. Die sind ja nicht blöd. Das wird dann schnell lächerlich und kann auch negativ auf die Marke zurückfallen.“ Vodafone hätte viele positive Rückmeldungen erhalten, erzählt der Moderator. Unverständnis zeigt er für Unternehmen, die junge Zuschauer auf Youtube abgreifen wollen, sich aber nicht auf die Plattform einlassen. „Wer dort mitmacht, sollte doch auch versuchen, handwerklich saubere Videos zu machen, die die Leute unterhalten. Youtube ist eine Entertainment-Plattform! Wer zu viele Not-to-do-Listen hat, produziert etwas Aalglattes, was total lächerlich ist.“
Viele Firmen eröffneten einen Youtube-Kanal, wüssten dann aber nicht, was sie damit anfangen sollten. „Dann beauftragen sie eine junge Agentur, die etwas umsetzen soll. Doch weil die Firma nicht den Mut hat, authentisch zu sein und das Ganze zu Ende zu bringen, kommt nichts Gutes dabei raus.“ Klicks kämen schließlich nicht von allein: „Alles steht und fällt mit dem Inhalt.“
Der Austausch mit den Fans ist für das Team essenziell. (Screenshot: Rocket Beans TV)
Und mit dem Publikum. Rocket Beans hat eine eingeschworene und treue Fangemeinde, auf die es sich verlassen kann. Das liegt einerseits in der Natur der Sache – Gamer verbringen nicht nur viel Zeit am Computer, sondern auch im Netz. Es könnte andererseits auch daran liegen, dass die Bohnen ihre Fans zum Teil des Programms und so aus Zuschauern eine echte Gemeinschaft gemacht haben.
„Im klassischen Fernsehen gibt es vielleicht mal eine Twitter-Fee, die dem Moderator ein paar Tweets vorliest. Wir interagieren wirklich. Rocket Beans ist Gemeinschafts-Werkeln“, erklärt Nils Bomhoff. „Wir fragen nicht nur die Community, wir fragen die Community live.“ Ganze Sendeformate ergeben sich aus dem Austausch mit den Zuschauern. In Q&A-Sessions beantworten Moderatoren die Fragen der Fangemeinde, im Chatduell müssen Rocket-Beans-Mitarbeiter erraten, welche Antworten die Zuschauer auf bestimmte Fragen geben. Ein Programm wertet die Antworten parallel aus. An anderer Stelle nutzen die Moderatoren Twitter, um Meinungen zu erfragen oder Photoshop-Wettbewerbe loszutreten. „Die Resultate werden dann direkt in die Sendung eingebaut.” Diese Art der Ansprache sieht man im TV nur selten.
Geschönt wird bei den Rocket Beans kaum. Pannen dürfen passieren. (Screenshot: Rocket Beans TV)
Indem sie das Publikum einbeziehen, kommuniziert Rocket Beans auf Augenhöhe – und lässt damit das klassische Fernsehen alt aussehen: „TV ist Kulisse. Die Moderatoren sind perfekt frisiert und geschminkt und haben geile Texte geschrieben, die sie fehlerfrei vom Teleprompter ablesen. Es gibt keine Pannen. Dabei besteht das Leben doch aus Pannen und anderen unvorhersehbaren Dingen!“ Live-Apps wie Periscope eröffnen zwar Möglichkeiten, dem Zuschauer zu zeigen, wie Fernsehen entsteht. Rocket Beans hat jedoch schon vorher erkannt, dass es sich lohnt, anders zu sein, näher dran am Leben der Community. Die Moderatoren sind echt und wenn überhaupt dezent geschminkt, dürfen stottern, essen, trinken, sich gegenseitig ins Wort fallen, von handgeschriebenen Notizzetteln ablesen – und auch mal über sich selber lachen. Davon profitieren letztlich alle, Bohnen und Zuschauer zugleich.
Nils Bomhoff (r.) ist überzeugt, dass das klassische Fernsehen an Bedeutung verliert. (Screenshot: Rocket Beans TV)
Ohnehin ist Bomhoff davon überzeugt, dass das klassische Fernsehen an Bedeutung verliert. „Youtube hat das Sehverhalten der heranwachsenden Generation geprägt. Früher mussten wir jahrelang auf die guten amerikanischen Filme warten. Heute finden wir im Internet so viele hochwertige Inhalte. Dazu kommen Formate wie Watchever oder Netflix. Jeder, der Netflix hat, braucht eigentlich gar keine Serien mehr im Fernsehen zu schauen. Dieses Hoheitsgebiet hat das TV verloren.“ Nutzer konsumieren Inhalte, wann und wo sie wollen.
Dafür müssen diese plattformgerecht aufbereitet werden – an den sozialen Netzwerken führt kein Weg vorbei. Das hat auch Rocket Beans verstanden, die Frage danach irritiert Moderator Bomhoff beinahe. „Wir sind alle damit aufgewachsen. Für uns ist es selbstverständlich, die sozialen Netzwerke zu nutzen.” Auf Facebook und Twitter kündigen die Bohnen Sendungen an und kommunizieren mit den Zuschauern, ihre Inhalte vertreiben sie neben der eigenen Website und Youtube vor allem auf der Gaming-Plattform Twitch – also genau dort, wo sich die Zielgruppe aufhält.
Das Kern-Moderatorenteam (v.l.): Etienne Gardé, Daniel Budiman, Nils Bomhoff und Simon Krätschmer (Bild: Rocket Beans TV)
Rocket Beans ist ein Sender, auf dem Nerds – also Menschen, die für etwas brennen – Spiele spielen und Spaß haben. Warum funktioniert das? Das wissen die Bohnen selbst nicht ganz genau. „Wir haben unsere ganz eigene Ansprache und hoffen einfach, dass die Leute das mögen“, erklärt Bomhoff. „Fernsehen ist Geschmackssache, es gibt keinen handwerklichen Leitfaden, was läuft und was nicht.“ Doch auch wenn die Rocket Beans es sich nicht anmaßen wollen, Ratschläge zu verteilen: Ihre Geschichte zeigt, dass sie viele Dinge richtig gemacht haben. Sie sind authentisch, kennen ihre Zielgruppe, nehmen die Community ernst und interagieren mit ihr. Und sie produzieren handwerklich sauberen Content, der nicht nur den Fans, sondern auch den Moderatoren Spaß macht.
„Wir sind mit Leidenschaft bei der Sache“, sagt Bomhoff. „Wir machen nur Dinge, hinter denen wir inhaltlich auch stehen, für die wir uns begeistern und von denen wir auch ein bisschen Ahnung haben.” Bislang ist die Strategie aufgegangen. „Die ersten anderthalb Jahre waren wie eine Achterbahnfahrt: rasant, intensiv, großartig“, fasst Bomhoff zusammen. „Mit einem Unterschied: Eine Achterbahn fährt auf und ab. Bei uns ging es nur bergauf.“ Raketenhaft eben.