Liebe Leserinnen, liebe Leser,
die Fähigkeit zu lesen ist heute einmal mehr Kernkompetenz, um sich in einer immer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden. Das Lesen erlaubt uns, in kürzester Zeit Informationen aufzunehmen, sie zu verstehen, zu speichern und weiterzuverarbeiten. Eben genau so, wie Sie es jetzt mit diesem Newsletter tun. Aber wie wird heute überhaupt gelesen – und wie sieht die Zukunft des Lesens aus? Damit haben sich Leseforscher aus ganz Europa beschäftigt und sind zu interessanten Ergebnissen gekommen. Außerdem haben wir uns für Sie angeschaut, welche Tools uns das Lesen erleichtern sollen – und wie das Leseverhalten der Deutschen aussieht.
Viel Spaß beim Lesen!
Noch lange kein Fall fürs Altpapier: das gedruckte Wort
Ende letzten Jahres haben sich in Norwegen über 100 europäische Leseforscher zu einer großen Konferenz getroffen und die Ergebnisse einer Metastudie mit insgesamt 170.000 Teilnehmern vorgestellt. In der sogenannten „Stavanger-Erklärung“ beschreiben die Wissenschaftler, wie es um die Zukunft des Lesens bestellt ist. Besorgt zeigt man sich über die mangelnde Konzentrationsfähigkeit beim Lesen von digitalen Texten: „Da das Bildschirmlesen weiter zunehmen wird, müssen wir dringend Möglichkeiten finden, das tiefe Lesen langer Texte in Bildschirmumgebungen zu erleichtern.“ Im Umkehrschluss sei erwiesen, dass komplexe, lange Texte in gedruckter Form konzentrierter gelesen würden und somit besser im Gedächtnis haften.
Natürlich bietet die digitale Aufbereitung von Texten andere Vorteile: von der übersichtlichen Strukturierung, der Nutzung von Links zu weiterführenden Themen und multimedialen Inhalten bis hin zum passgenauen Zuschnitt auf die Leserinteressen. Die Möglichkeiten sind immens, müssen aber auch konsequent genutzt werden, um etwaige Nachteile auszugleichen.
Auch der Psychologie-Professor Sascha Schroeder von der Universität Göttingen hat sich mit dem Thema Lesen beschäftigt und ist Unterzeichner der „Stavanger-Erklärung“. Er berichtet Beruhigendes für alle, die in ihrer Freizeit der Belletristik frönen: Bei erzählender Literatur macht es keinen Unterschied, ob wir sie als Buch oder E-Book lesen, Hauptsache, wir fühlen uns gut unterhalten.
Am Bildschirm und auf Papier – so liest Deutschland
Laut Angaben des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels betrug 2017 der Gesamtumsatz des deutschen Buchhandels 9,13 Milliarden Euro. Davon wurden rund 1,71 Milliarden online erwirtschaftet. Fast 5 Prozent des Umsatzes wurden durch E-Books (ohne Schul- und Fachbücher) gemacht, zudem stieg der Absatz von E-Books um eine Million auf 29,1 Millionen Exemplare. Insgesamt kauften etwa 3,5 Millionen Personen digitale Bücher, mehr als 30 Millionen Menschen kauften klassische Bücher auf Papier. In fast 50 Prozent aller deutschen Haushalte gibt es mittlerweile einen E-Reader. Laut einer Studie der Thalia Bücher GmbH lesen zudem mit über 30 Prozent immer mehr Menschen „hybrid“, also auf Papier und digital. 70 Prozent der Befragten entschieden sich für E-Books, da sie diese als „einfach praktischer“ empfinden.
Schneller, höher, weiter: Lesehilfe per App
Schon seit einigen Jahren gibt es eine Vielzahl von Programmen, die uns das Lesen am Bildschirm erleichtern sollen. Der Clark Focus Reader beispielsweise unterstreicht die zu lesenden Passagen und möchte so das Lesen entspannter machen, sodass das Gelesene leichter im Gedächtnis bleibt. Tools wie spritz dagegen „spielen“ die einzelnen Wörter eines Textes hintereinander ab, wobei sich das Tempo individuell anpassen lässt. So, versprechen die Macher, ließe sich die Lesegeschwindigkeit nach und nach steigern. Die Spreeder-Software nutzt eine ähnliche Technik, bietet aber zudem viele weitere Features, um beispielsweise schlechte Lesegewohnheiten wie das leise Mitlesen (Vokalisation) abzutrainieren. Ob mit App oder klassischem Speed-Reading-Kurs, laut Leseforschern ist so eine Steigerung des Lesetempos von etwa 200 bis 300 Wörtern pro Minute (WpM) auf bis zu 600 WpM möglich.
Schnell gelesen – aber auch alles verstanden?
An der Technik des sogenannten Schnelllesens scheiden sich die Geister. Sascha Schroeder betrachtet es eher kritisch: „Es gibt zwar Trainings und die führen auch dazu, dass die Leute das Gefühl haben, dass sie schneller lesen. Aber es gibt eigentlich keine Studie, die zeigt, dass es wirklich funktioniert.“ Auf gleichem Verständnisniveau könne man seine Lesegeschwindigkeit nur bedingt modifizieren. Das führt dem Wissenschaftler zufolge fast immer dazu, dass man oberflächlicher liest.
Professor Ralph Radach von der Universität Wuppertal sieht dagegen durchaus Potenziale für die Erhöhung des Lesetempos. Wichtig sei es, den Leseprozess durch gezieltes Üben zu beschleunigen – ohne den Sinn des Gelesenen aus den Augen zu verlieren. Ein gutes Lese-Training zeichnet sich Radach zufolge dadurch aus, dass es eine gute Planung und Nachbereitung vermittele. Das Lesen solle schrittweise schneller werden und sich statt auf einzelne Wörter mehr und mehr auf ganze Sinneinheiten beziehen. „Realistisch ist es, bei gleichem Verständnisniveau eineinhalb- bis zweimal schneller zu werden“, so der Psychologie-Professor aus Wuppertal.
Des Pudels Kern: Fachbücher für Sie zusammengefasst
Einen anderen Ansatz als die oben vorgestellten Apps verfolgen Anbieter wie getabstract oder das Berliner Start-up Blinkist: Dort findet man sowohl Sachbücher als auch klassische Literatur in komprimierter Form, als Kurztext oder zum Anhören. Der Vorteil liegt auf der Hand: In kürzester Zeit lassen sich so essenzielle Kernthesen auch aus komplexen Werken entnehmen. Natürlich gibt es kritische Stimmen, die bemängeln, dass etwaige Herleitungen oder Details des Tons oder der Sprache eines Autors verloren gehen. Impulse-Autor Sven L. Franzen sieht das anders und erkennt vor allem Vorteile in der Nutzung von Blinkist: So profitiere man von einer Orientierung auf dem Buchmarkt, welche aktuellen Fachbücher gerade im Trend sind, um mitreden zu können. Und man habe die Möglichkeit, die Zusammenfassung von Büchern anzulesen und dann gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt komplett durchzuarbeiten.
Studie: US-Teenager lesen weniger
In den USA sorgte eine Studie zum Leseverhalten für Aufsehen: Demnach hatte einer von drei Teenagern innerhalb eines Jahres kein einziges Buch zum eigenen Vergnügen gelesen, auch kein E-Book. Das sind fast dreimal so viele wie in den 1970er-Jahren. Von dem Rückgang beim Lesen waren selbst die Forscher überrascht. „Es ist so bequem, Bücher und Zeitschriften auf elektronischen Geräten wie Tablets zu lesen“, kommentiert Jean M. Twenge, Psychologie-Professorin an der San Diego State University. „Trotzdem ist das Lesen deutlich zurückgegangen“, so die Psychologin. Dies bedeute Herausforderungen sowohl für künftige Studierende als auch für die Lehrenden. Junge Leute seien nicht weniger intelligent, ihnen fehle jedoch die Erfahrung, sich über längere Zeiträume zu konzentrieren und lange Texte zu lesen, sorgt sich die Wissenschaftlerin. Dies jedoch sei essenziell, um komplexe Sachverhalte zu verstehen und kritisches Denken zu entwickeln.
Zu weiteren spannenden Themen aus der Digital- und Kommunikations-Branche geht es hier.