Wenn es um Überschriften ging, erzählte der große Mad Man David Ogilvy gerne die Geschichte von Max Hart und seinem Werbeleiter George Dyer. Hart war Chef einer großen Agentur und ärgerte sich über eine viel zu lange Anzeige: Das lese doch keiner, diese 1000 Worte, dann lieber ein Bild. Der alte Werbeleiter allerdings wettete mit seinem Chef um 10 Dollar: Er, Dyer, könne eine ganze Zeitungsseite füllen, und Hart würde sie lesen. Er bräuchte nur die richtige Überschrift. Der Chef schlug ein – und verlor.
„Wenn Sie Ihre Schlagzeile geschrieben haben, so sind 80 Cent von Ihrem Dollar bereits ausgegeben“, schreibt Ogilvy in seinem Bestseller Geständnisse eines Werbemannes. Mit Dollars kennt Ogilvy sich aus, er hat eine Menge davon verdient. Seine Aussage wird wohl stimmen.
Heute allemal: Wer in den vollgestopften Informationskanälen unserer Zeit nicht untergehen möchte, braucht eine starke Zeile. Das gilt für Zeitungen, für Tweets, für Blogs, für Newsfeeds und für Facebook. Die Überschrift ist die Tür, durch die der Leser den Text betritt. Die gute Nachricht: Für die perfekte Überschrift braucht man nur fünf Arbeitsschritte.
Quelle Originalüberschrift: Bild
Schritt 1: Zielgruppe
Als erstes muss klar sein, wer überhaupt erreicht werden soll. Klingt wie eine Binsenweisheit der PR, wird aber erschreckend oft vergessen. Ein dynamischer Berater an seinem Smartphone zum Beispiel reagiert auf andere Überschriften als ein honoriger Anwalt, der morgens in seiner Altbauwohnung die Frankfurter Allgemeine aufschlägt.
Wer beispielsweise Pressemitteilungen für Journalisten schreibt, sollte sich Gedanken machen: Welches Ressort bediene ich, und was arbeiten da für Leute? An welchem Tag publiziere ich, und was wird für meine Zielgruppe sonst noch aktuell sein? Oft ist auch die Tageszeit wichtig: Morgens klicken die Leute eher auf arbeitsbezogene Links, nachmittags geht es häufiger um Themen aus dem Privatleben.
Hier gilt die alte friesische Weisheit: Der Köder muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Journalisten interessieren andere Dinge als Produktmanager, aber beide wollen das neue Auto beschreiben. Der Gamer klickt anders als der Ingenieur, obwohl sich beide für Computer interessieren.
Schritt 2: Kontext
Ist die Zielgruppe identifiziert, ergibt sich meistens auch schon der Kontext: Wird online oder gedruckt publiziert, auf Twitter oder Facebook – jedes Umfeld hat seine eigenen Regeln. Im Feuilleton erregt man anders Aufsehen als bei BuzzFeed.
Journalistische Überschriften etwa sollten die Kernaussage des Artikels wiedergeben. Hier muss der Autor korrekt, verständlich und präzise formulieren. Sie müssen verkürzen, dürfen aber nicht verfälschen. Bei Viralseiten wie BuzzFeed wiederum geht es um den Wow-Effekt, um die kurzfristige Ablenkung vom Alltag. Hier kann man übertreiben, ironisieren oder bewegen.
Quelle Originalüberschrift: BuzzFeed
Schritt 3: Inhalt
An dieser Stelle nimmt man sich den Inhalt zur Brust und reduziert ihn aufs Wesentliche. Jeder Text hat eine bestimmte Aussage, auf die alles andere einzahlt. Und da die wenigsten Texte dem Autor in poetischer Entrückung aus der Feder fließen, empfiehlt es sich gerade für Auftragsarbeiten, die Überschrift als erstes zu entwickeln. Das hilft beim Schreiben und hält auf Kurs. Die Grundaussage des Textes bleibt dabei besser im Blick, und man kann sie an kritischen Stellen gezielter einsetzen.
Schritt 4: Form
Jetzt wird getextet. Das ist gar nicht so schwer, im Grunde kann man sich an folgenden Kategorien orientieren:
Einfach und direkt. Funktioniert eigentlich immer, am besten bei Nachrichten. Ohne Wortspiele oder Ironie, keine Aufforderung oder Frage, ganz schlicht und geradeaus. Einfach alles streichen, was nicht unbedingt notwendig ist. Vor allem Artikel.
Beispiel: „Bankenkrise: Bundesregierung beschließt neues Hilfspaket.“
Quelle Originalüberschrift: ZEIT ONLINE
Die schnelle Nummer. Zahlen und Daten, am besten groß und gerundet. Die Informationen werden auf eine wesentliche Zahl reduziert, sodass allein schon die Überschrift nützliches Wissen vermittelt.
Beispiel: „80 Prozent aller Blogbeiträge bleiben ungelesen.“
Die Aufzählung. Sogenannte „Listicals“. Sehr beliebt für Eilige, weil es eine überschaubare Menge an Information und Leseaufwand verspricht. Wirkt allerdings nicht immer seriös: Selbst „Die 10 besten Flüchtlingsheime“ klingt irgendwie nach Boulevard.
Beispiel: „In fünf Schritten zur perfekten Überschrift“
Das Versprechen. Der Nutzen des Textes in die Überschrift gepackt. Es versteht sich von selbst, dass man das Versprechen auch einlösen muss – sonst leidet die Glaubwürdigkeit. Eine gute Übung, um den Grundgedanken eines Textes zu formulieren.
Beispiel: „Mehr Glück in der Liebe“
Der Ratgeber. Jeder Mensch hat Probleme, jeder Mensch sucht nach Lösungen. Wer ein Ratgeberthema behandelt, sollte daran also auch in der Überschrift keinen Zweifel lassen. Hier geht es um das „Wie“: Nicht umsonst heißt eines der erfolgreichsten Bücher dieser Sparte „How to win friends and influence people“.
Beispiel: „Wie Sie Ihr Hoverboard mit dem iPhone verbinden“
Quelle Originalüberschrift: SPIEGEL ONLINE
Die Provokation. Bei kontroversen Themen bietet sich eine provokative Frage an – Polemik zieht immer, nur vielleicht nicht immer in die gewünschte Richtung. Oft ist die Frage rhetorisch und geschlossen, lässt sich also eindeutig mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Die Erfahrung zeigt übrigens: Als Überschrift werden solche Fragen vom Text fast immer mit „nein“ beantwortet.
Beispiel: „Müssen wir tatsächlich für die Krise zahlen?“
Der Superlativ. Ein klassisches Stilmittel im Boulevard und bei bunten Themen. Gewissermaßen die Leuchtreklame unter den Überschriften. Semantisch grell und aufsehenerregend – aber auf Dauer auch schnell ermüdend. Natürlich sollte der Superlativ faktisch vorhanden und grammatisch korrekt sein.
Beispiel: „Europa: Die besten Texte der Woche“
Schlechtes Beispiel: „Das kompletteste Angebot der Branche“
Das Zitat. Manchmal kann sich ein Text auch mit fremden Federn schmücken. Wenn eine Aussage hohe Brisanz hat oder einen Sachverhalt treffend auf den Punkt bringt, dann funktioniert sie meistens auch gut als Überschrift. Dabei muss es nicht immer die direkte Rede sein.
Beispiel: Fußballstar Thomas Mustermann: “Das war ein richtig harter Kampf”
Die Meinung. Frei von der Leber. Ein Spiel mit Risiko, gerade bei Streitfragen oder anderen heiklen Themen. Vor allem bei professionellen Texten muss abgewogen werden, ob eine subjektive Haltung der Sache nützt. Eine Meinung kann viel Zuspruch bringen – aber genauso heftige Kritik.
Beispiel: „Deutschland: Das Land der schlechten Entscheidungen“
Jede Form hat ihre Vor- und Nachteile, nicht immer ist alles zu jedem Thema angebracht. Trotzdem findet man mit diesen Kategorien eine gute Arbeitsgrundlage, die bereits ausreichend funktioniert. Das gewisse Extra bekommt die Zeile dann im nächsten Schritt.
Schritt 5: Feenstaub
Ganz am Schluss muss man die formale Ebene verlassen. Jetzt geht es ums Gefühl, um das Unterbewusste und Reflexhafte: Der rhetorische Impuls für den Klick.
Wortspiele und rhetorische Stilmittel zum Beispiel. Die taz hat ihre Sponti-Schlagzeilen fast zu einem Markzeichen gemacht, der Politikchef der BILD-Zeitung hat uns das denkwürdige „Wir sind Papst“ geschenkt. Natürlich kann man sich dabei auch verheben. Dann heißt es plötzlich: „Lepra-Gruppe hat sich aufgelöst“.
Meckern funktioniert ebenfalls. Das ist weniger edel und macht auf Dauer unglücklich – aber trotzdem werden Texte gerne gelesen, in denen sich der Autor beschwert und stellvertretend für den Leser ärgert: „Hier hören wir, was unsre Seele in leisen Ahndungen fühlte“, heißt es dazu bei Schiller. Ein Artikel über die Arbeitsmethoden in deutschen Werbeagenturen heißt dann schon mal „Was deutsche Werber falsch machen“.
Bei Onlinetexten entscheidet sich in diesem Schritt auch der Einsatz von SEO-Maßnahmen. Mit dem richtigen Schlüsselwort kann die Zeile für Suchmaschinen optimiert werden, man kann aber auch komplett darauf verzichten. Viele Überschriften werden heute nämlich einfach für Facebook oder Twitter geschrieben. Die Autoren setzen dann auf eine anlassbezogene Emotionalisierung, weil solche Themen in den sozialen Netzwerken häufig geteilt werden. Ein hoher Google-Rang kommt dann von selbst.
Von dort ist der Weg allerdings nicht mehr weit zum Clickbait und damit in den neunten Kreis der Texterhölle. Clickbait funktioniert über einen psychologischen Trick, der sich Neugierlücke nennt. Dabei vermittelt eine reißerische Überschrift gerade so viele Informationen, dass der Leser neugierig wird – aber nicht genug, um diese Neugier zu befriedigen. Viralseiten wie Upworthy oder heftig.co haben das zur Perfektion gebracht und verdienen nicht schlecht daran. Das Muster ist immer gleich:
- „Mietpreiswucher: Sie werden nicht glauben, was diese Wohnung kostet“
- „8 Gründe für eine Trennung. Der vierte rührt jeden zu Tränen“
- „Ein Elefantenbaby wird von der Strömung mitgerissen. Doch dann passiert etwas Wunderbares …“
- „Dieser Tweet von Bill Gates macht viele Menschen wütend – dabei ist er wichtig“
Quelle Originalüberschrift: Heftig.co
Dass solche Überschriften ihre Versprechen oft nur leidlich einlösen, liegt auf der Hand. Seriös ist man damit nur selten.
Deshalb gilt ganz allgemein: Ein wenig Gewürz in der Zeile ist gut, man sollte aber nicht gleich den Geschmacksverstärker auspacken. Wer interessanten Inhalt mit einer angemessenen Schlagzeile verpackt, hat langfristig mehr Erfolg. Nicht unbedingt in Klickzahlen gemessen, sondern in der Reputation als verlässliche Quelle, deren Leser echte Interessenten sind – und nicht nur Opfer einer Neugierlücke.
Apropos: Die Überschrift von George Dyer. Sie war so einfach wie überzeugend: „This Page is all about Max Hart“. Auf den ersten Blick vielleicht etwas platt, aber im Grunde bringt es die Sache auf den Punkt: Mit der richtigen Zeile an der Spitze hat der Leser das Gefühl, dass der Text nur für ihn geschrieben wurde. Allein darauf kommt es an.
Daniel Jungblut arbeitet bei OSK als Redenschreiber. In Münster und Wien studierte er Musikwissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie. Er hat als Journalist, Texter und Ghostwriter gearbeitet, als Kommunikationsberater in der Politik und Kartenabreißer im Kino. Daniel liest, wie er selbst sagt, zu viele Bücher und schaut gerne Filme und Fernsehserien, schnürt beizeiten seine Wanderschuhe und ist dann gespannt, wohin sie ihn tragen.