Autonomes Fahren entlastet den Lieferverkehr

 

Onlineshopping boomt, das Paketaufkommen steigt rasant an. Autonome Logistik- und Liefersysteme, die insbesondere auch nachts unterwegs sind, könnten den innerstädtischen Verkehr entlasten und damit effizienter gestalten.

Kennen Sie Lieferwagen-Slalom? Nein, das ist keine neue Rennserie der Post. Es geht um die Kunst, sich in der Stadt möglichst geschickt an Lieferwagen vorbeizuschlängeln, die in zweiter Reihe, auf dem Fahrradweg oder dem Bürgersteig parken. Wer sich schon heute darüber ärgert, wird vermutlich in ein paar Jahren mit Wehmut an die vergleichsweise paradiesischen Zustände des Jahres 2018 zurückdenken. Das legen zumindest die folgenden Zahlen nahe: 2014 wurden global noch rund 44 Milliarden Pakete ausgeliefert. Innerhalb von nur zwei Jahren stieg diese Zahl auf 65 Milliarden Pakete, eine Steigerung von knapp 48 Prozent.

Studien rechnen bis 2025 mit zweistelligen Wachstumsraten – pro Jahr! Deutschland steht bis zum Jahr 2030 eine Verdopplung des Paketaufkommens bevor, unter anderem verursacht durch den wachsenden Onlineshopping-Boom. Dazu kommt der ungebrochene Trend zur Urbanisierung. Bis zum Jahr 2050 werden fast zwei Drittel aller Menschen weltweit in einer Stadt leben, prognostiziert eine Studie von UN-Habitat. Die Zukunftsperspektive bis 2050 zeigt die Entwicklung noch drastischer. Global betrachtet leben aktuell vier Milliarden Menschen in Städten. Bis Mitte des Jahrhunderts sollen es bereits 6,5 Milliarden sein – mit entsprechenden Folgen für das Verkehrsaufkommen.

Autonomes Fahren endlich als Chance begreifen

Mit der bestehenden Infrastruktur und traditionellen Mobilitätskonzepten lässt sich der massive Anstieg des Lieferverkehrs nicht bewältigen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis große Städte den Beispielen aus London oder Paris folgen müssen – und die Innenstädte zur autofreien Zone erklären.

Autonomes Fahren entlastet den Lieferverkehr

Alternativ wird es so exorbitant teuer, per Auto in die Stadt zu fahren, dass sich immer weniger Menschen diesen Luxus leisten können. Vor diesem Hintergrund geht die öffentliche Diskussion um das autonome Fahren nicht weit genug. Sie dreht sich bislang fast ausschließlich um die private Nutzung und um die immer gleiche Frage: Wollen wir das wirklich?

Meiner Meinung nach gibt es in dieser Hinsicht nur zwei Alternativen: Entweder wir ändern unseren Lebensstil drastisch und schränken unser Konsumverhalten und unsere Mobilität erheblich ein. Oder wir begreifen autonomes Fahren endlich als Beitrag zur Lösung unserer immer dringlicher werdenden Mobilitätsprobleme. Als Chance, unsere Wirtschaft und unseren Verkehr effizienter zu gestalten – und unsere Innenstädte wieder lebenswerter zu machen.

Nachts Waren, tagsüber Menschen

Gerade in der gewerblichen Nutzung des autonomen Fahrens bieten sich dazu viele Ansätze. So könnten unbemannte Lieferautos vor allem die weniger frequentierten Nachtzeiten nutzen, um Waren schnellstmöglich an die Zielorte zu transportieren. Doch dieser Einsatz ist erst der Anfang. Wechselnde Fahrzeugaufbauten markieren den nächsten Entwicklungsschritt. Dasselbe Fahrzeug, das tagsüber im Personentransport aktiv ist, könnte nachts mit einem anderen Aufbau im Lieferverkehr unterwegs sein.

Dasselbe Fahrzeug, das tagsüber im Personentransport aktiv ist, könnte nachts mit einem anderen Aufbau im Lieferverkehr unterwegs sein.

Damit ließe sich die Infrastruktur besser nutzen und ermöglichte mehr Handlungsfreiheiten für die Stadt- und Raumplanung. Mit wesentlichen Auswirkungen für die Hersteller. Sie würden keine Fahrzeuge, sondern integrierte Dienstleistungen anbieten. Das Vansharing im B2B-Bereich käme für Unternehmen wie für Kommunen und Organisationen gleichermaßen infrage. Damit ließen sich ganz nebenbei auch Marketingkonzepte wie Pop-up-Stores an bestimmten Plätzen zu bestimmten Zeiten umsetzen.

Bezüglich der Belieferung auf der letzten Meile wird die Integration und Kombination von autonomen Fahrzeugen mit anderen Diensten zur wichtigen Herausforderung. Ein Ansatz, den zum Beispiel Mercedes-Benz gemeinsam mit einem Start-up verfolgt, könnte die Nutzung von Lieferrobotern sein. Sie werden im Lieferfahrzeug transportiert und übernehmen die letzten Meter zwischen Fahrzeug und Haustür.

Platooning-Fahrzeuge machen es vor

Schon heute ist das Potenzial von autonom fahrenden gewerblichen Fahrzeugen nachhaltig belegt. Beispiel Platooning: Mehrere Lastwagen werden per WLAN miteinander und an ein Führungsfahrzeug gekoppelt, das von nur einem Fahrer gelenkt wird. Der Konvoi-Anführer funkt Fahrzeugdaten wie Geschwindigkeit, Bremsmanöver und Richtung an die folgenden Fahrzeuge. Das schafft ein deutliches Sicherheitsplus, denn ein Bremssignal erreicht in 0,1 Sekunden die nachfolgenden Platooning-Fahrzeuge.

In dieser Zeit hat ein menschlicher Fahrer noch nicht einmal bewusst wahrgenommen, dass er bremsen muss. Gleichzeitig sinkt durch die Windschattenfahrt der Kraftstoffverbrauch. Derzeit testet Daimler das System in den USA, denn dort werden rund 80 Prozent aller Güter per Lkw transportiert. Die richtige Frage nach der Nutzung des autonomen Fahrens – gerade im gewerblichen Umfeld – lautet daher meiner Meinung nach nicht: „Wollen wir das wirklich?“, sondern: „Wann fangen wir endlich damit an?“

Dieser Artikel erschien zuerst als Bilanz-Kolumne auf welt.de.

Über den Autor

Michael Kemme ist Geschäftsführer bei Oliver Schrott Kommunikation. Seit 20 Jahren berät und betreut er Automotive-, Technologie- und Industrie-Unternehmen an der Schnittstelle von PR, Kommunikation und Marketing. Für den OSK Blog schreibt er über die Agenturwelt und den Medienwandel. Dabei greift er aktuelle Themen und Aspekte auf, die ihm im Rahmen seiner Arbeit für internationale Kunden und Marken begegnen. Michael Kemme ist Langstreckenläufer, Fußballfan und Tablet-Heavy-User. An Wochenenden ist er mit seinem Golden Retriever am Rhein unterwegs.

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