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Aus Fiktion wird immer mehr Fakt: Intelligente Autos, die komplett autonom fahren können, rücken Schritt für Schritt in greifbare Nähe. Zu Erprobungszwecken sind sie inzwischen auch auf öffentlichen Straßen unterwegs – wenn auch unter strengen Auflagen. Dass autonomes Fahren kommen wird, gilt in der Branche als ausgemachte Sache. Zwar nicht von heute auf morgen, aber peu à peu werden die bereits erhältlichen Assistenzsysteme perfektioniert, um weitere Funktionen ergänzt und zum Autopiloten ausgebaut.

Das Rennen von Autoherstellern, Software-Unternehmen und Zulieferern um die Poleposition ist bereits in vollem Gange. Es geht um Zukunftsfähigkeit, Technologieführerschaft und die Sicherung des eigenen Anteils am erwarteten Geschäftspotenzial rund um die autonome Mobilität. Da will keiner den Anschluss verlieren. Neben der technischen Realisierung und dem erklärten Ziel höherer Verkehrssicherheit geraten dabei zunehmend weitere Aspekte in den Blick: Wie verbringen und nutzen wir künftig die Zeit im selbstfahrenden Auto, wie gestaltet sich das Miteinander der unterschiedlichen Verkehrsteilnehmer und welche Auswirkungen hat autonome Mobilität auf die Gesellschaft?

Bereits im März 2014 hatte Sebastian Gierich auf dem OSK-Blog über die Entwicklungen unter dem Titel „Wenn Autos intelligent werden“ berichtet. Mittlerweile ist viel passiert – Zeit, einen frischen Blick auf das Thema zu werfen, das aktuell zu den heißesten in der Autobranche zählt.

Ein Flugfeld bei San Francisco im März 2015: Auf dem ehemaligen Militärstützpunkt Naval Air Station Alameda präsentiert Mercedes-Benz Journalisten sein neuestes Forschungsfahrzeug: den autonom fahrenden  F 015 Luxury in Motion. Eine viersitzige Lounge auf Rädern, die den automobilen Luxus der Zukunft aus Sicht der Premiummarke repräsentieren soll. Außen futuristisch gestylt, innen mit großzügigem Platzangebot, Wohlfühlambiente und einem Ensemble an interaktiven Bildschirmen ausgestattet.

Einblicke in den Mercedes-Benz F 015 (Quelle: YouTube)

Im Hintergrund arbeitet eine Armada an Rechnern; eine umfangreich vernetzte Sensorik aus Kameras, Radar und anderen elektronischen Sinnesorganen erfasst permanent die Umgebung. Algorithmen werten den Datenstrom kontinuierlich aus, ergänzt um Informationen aus der „Cloud“. So mit künstlicher Intelligenz gerüstet, kann das Zukunftsauto eigenständig das Steuer übernehmen – die Passagiere müssen selbst nicht mehr auf den Verkehr achten.

© Daimler AGDas Auto fährt, die Insassen entspannen. (Quelle: Daimler AG)

Stattdessen lässt sich die Zeit an Bord anderweitig verbringen: Mails bearbeiten, skypen, im Internet surfen, miteinander plaudern, Musik hören, Filme schauen oder einfach nur entspannen. Dank drehbarem Front-Gestühl alles auch in Vis-à-Vis-Position. Das Auto als mobiles Büro oder Relax-Zone. Und als hilfreicher Partner im Straßenverkehr. Zu diesem Zweck haben die Entwickler das Forschungsauto mit eigener optischer und akustischer Kommunikationsfähigkeit ausgestattet. K.I.T.T. aus der TV-Kultserie Knight Rider lässt grüßen.

© Daimler AGLEDs informieren über den Fahrmodus und können Textbotschaften abbilden. (Quelle: Daimler AG)

Über LED-Displays an Bug und Heck informiert der F 015 über seinen Fahrmodus (Blau = autonom, Weiß = manuelles Fahren), zeigt kurze Textbotschaften an oder signalisiert mit speziellen Lichtfolgen, dass er einen Fußgänger wahrgenommen hat. Auch Sounds und Sprachhinweise („Please stop“, „Please go ahead“) über Lautsprecher gehören zum Repertoire, um zum Beispiel vor potenziellen Gefahren zu warnen oder einen Passanten wissen zu lassen, dass die Straße frei zum Überqueren ist. Per Lasersystem kann der F 015 beispielsweise einen virtuellen Zebrastreifen auf die Fahrbahn projizieren.

Mercedes sieht den F 015 Luxury in Motion als Vorboten einer Mobilitätsrevolution und hat für ihn ein visionäres Zukunftsszenario mit dem Titel „Stadt der Zukunft 2030+“ entwickelt, das laut Unternehmen „viele Aspekte des zukünftigen mobilen Lebens berücksichtigt“.

„Wer nur an die Technik denkt, hat noch nicht erkannt, wie das autonome Fahren unsere Gesellschaft verändern wird. Das Auto wächst über seine Rolle als Transportmittel hinaus und wird endgültig zum mobilen Lebensraum“, so Daimler-Chef Dr. Dieter Zetsche in seiner Keynote zur Eröffnung der Consumer Electronics Show (CES) Anfang Januar in Las Vegas. Dort feierte auch der F 015 seine Publikumspremiere – nach einer Tour durch die Wüste Nevadas und über den Strip der Spielerstadt kam der silberne Prototyp selbstständig auf die Bühne gerollt.

Autonome Giganten der Straße

Ganz in der Nähe von Las Vegas unterstrich das Unternehmen dann Anfang Mai seine Ambitionen in Sachen autonomes Fahren, aber in einer ganz anderen Dimension. Am Hoover Staudamm präsentierte Daimler Trucks den Freightliner Inspiration Truck mit Highway Pilot, den weltweit ersten autonom fahrenden Lkw mit US-Straßenzulassung. Der Gigant der Straße basiert auf dem Freightliner Cascadia Serienmodell und verfügt über die sogenannte Highway Pilot Technologie, auf die schon der Mercedes-Benz Future Truck 2025 bei seiner Roboter-Fahrt auf einem gesperrten Teilstück der A 14 bei Magdeburg im Juli 2014 baute.

Die Daimler Entwickler modifizierten es passgenau für die konzerneigene US-Marke Freightliner und den Einsatz auf amerikanischen Highways. Vorrangige Ziele des autonomen Fahrens im Nutzfahrzeugbereich: reduzierter Kraftstoffverbrauch, geringere CO2-Emissionen, weniger Staus und eine insgesamt höhere Sicherheit im Straßenverkehr. Gerade für die USA sehr vielversprechende Aussichten, da Lkw dort das mit Abstand wichtigste Transportmittel stellen.

© Daimler AGDer Freightliner Inspiration Truck: mehr Effizienz und Sicherheit durch Entlastung des Fahrers. Der bleibt als Teil des Systems jederzeit Chef in seinem Fahrzeug, behält die Kontrolle, kann sich beim autonomen Fahren auf dem Highway aber anderen sinnvollen Tätigkeiten widmen. (Quelle: Daimler AG)

Die CES in Las Vegas als wichtigste Elektronik-Messe der Welt hatte Anfang Januar 2015 auch Audi zum Anlass genommen, seine Fähigkeiten in punkto pilotiertes Fahren, wie es im Konzernjargon heißt, zu demonstrieren: Die Studie A7 prologue piloted driving fuhr die rund 900 Kilometer lange Strecke von Stanford nach Las Vegas völlig selbstständig über amerikanische Highways.

© AudiDie Audi-Studie A7 prologue piloted driving. (Quelle: Audi)

Auf der ersten CES in Asien, die im Mai 2015 in Shanghai stattfand, erklärte Audi-Chef Rupert Stadler in seiner Keynote: „Keine andere Entwicklung verändert unsere Industrie so umfassend wie die Digitalisierung.“ Laut Audi ist das Auto von morgen integraler Bestandteil der vernetzten Welt. Als Premiere präsentierte die Marke mit den vier Ringen in Shanghai die Technikstudie Audi R8 e-tron piloted driving. Bereits im Oktober 2014 ließ Audi zum DTM-Saisonfinale ein Roboterauto führerlos mit bis zu 240 km/h über den Hockenheimring rasen.

Ohne Fahrer über den Hockenheimring – das Audi RS7 piloted driving concept. (Quelle: YouTube)

Auch andere Hersteller wie BMW, Toyota, Ford, Cadillac oder Nissan sind beim Thema „autonomes Fahren“ mehr oder weniger öffentlichkeitswirksam aktiv. Im Februar verkündete Volvo, dass das Unternehmen im Rahmen des Ende 2013 gestarteten „Drive Me“-Projekts 100 selbstfahrende Autos ab 2017 an Kunden verleasen will – zur Nutzung auf ausgewählten öffentlichen Straßen im normalen Straßenverkehr rund um Göteborg. Auf der Computermesse CeBIT machte im März Tesla mit der Ankündigung von Autopilot-Funktionen von sich reden, die per Software-Update für alle Model S und Model X kommen sollen. Internetgigant Google ist schon seit einigen Jahren mit einer Flotte verschiedener Fahrzeuge autonom in Kalifornien unterwegs, die mittlerweile mehrere hunderttausend Kilometer absolviert hat. Gerüchten zufolge plant auch Apple den Einstieg ins Metier.

© GooglePrototyp: selbstfahrendes Google Car. (Quelle: Google)

Eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung autonomer Fahrsysteme kommt den Zulieferern zu. Bosch, Continental, Magna, ZF und Co. steuern einen Teil der erforderlichen Sensorik und Elektronik bei. Und bringen eigene Technikträger an den Start: So schickte Ende März der US-Supplier Delphi einen mit einschlägigen Systemen ausgerüsteten Audi Q5 auf eine autonome Reise quer durch die USA – von der Golden Gate Bridge in San Francisco nach New York. In neun Tagen absolvierte der Prototyp von Küste zu Küste circa 5.470 Kilometer und damit die bislang längste Tour eines selbstfahrenden Autos durch Nordamerika.

Gravierende Veränderungen, großes Geschäftspotenzial

Eine Roland-Berger-Studie „Autonomous Driving“ vom Dezember letzten Jahres prognostiziert bis 2030 allein im Bereich der Komponenten ein zusätzliches Umsatzvolumen durch autonomes Fahren von bis zu 40 Milliarden US-Dollar. Nochmal 20 Milliarden US-Dollar Marktvolumen werden im Bereich neuer Software-Lösungen für Fahrerassistenzsysteme erwartet. Die Strategy Consultants von Roland Berger attestieren dem autonomen Fahren das Potenzial, die Automobilindustrie in den kommenden Jahren grundlegend zu verändern

Die Unternehmensberatung Berylls sieht laut einer Studie vom Dezember 2014 (Automatisiertes Fahren –„The next big thing!?“) voll-automatisiertes Fahren, das heißt Fahrautomaten, die keinen Eingriff eines Fahrers mehr benötigen, ab etwa 2025 auf uns zukommen. Autonome Fahrzeuge, die über gar keinen manuellen Modus mehr verfügen, dann ab circa 2030. Der Durchbruch wird fünf Jahre später erwartet: 2035 ist laut der Studie mit einem Marktanteil von 20 Prozent hoch- und voll-automatisierter oder sogar autonomer Pkw zu rechnen, die vor allem in Nordamerika, China und Westeuropa verkauft werden.

Google will laut Projekt-Direktor Chris Urmson seine Vision eines selbstfahrenden Autos bereits innerhalb der nächsten fünf Jahre auf den Markt bringen – und sucht dafür Partner in der Automobilindustrie. Mercedes-Benz kann sich vorstellen, ab 2020 zunächst autonomes Fahren auf der Autobahn zu ermöglichen und weitergehende Stufen, die auch den urbanen Verkehr umfassen, dann ab 2030 folgen zu lassen.

© GoogleGoogles Vision eines selbstfahrenden Autos. (Quelle: Google)

Die notwendige Technologie ist in weiten Teilen vorhanden. Woran hapert es also? Momentan steht dem freien Einsatz autonom fahrender Autos auf öffentlichen Straßen vor allem noch die Gesetzeslage entgegen. Versuche sind nur mit Ausnahmegenehmigungen oder speziellen Lizenzen wie in einigen US-Bundesstaaten (Kalifornien, Nevada, Florida, Michigan) möglich. Aber es tut sich etwas: In 2014 hat ein Expertenausschuss der Vereinten Nationen die Wiener Straßenverkehrskonvention aus dem Jahr 1968 ergänzt und damit die Basis für die Legalisierung des autonomen Fahrens geschaffen. Künftig sollen entsprechende Systeme zulässig sein, wenn sie jederzeit vom Fahrer abgeschaltet oder übersteuert werden können. Eine Umsetzung in nationale Gesetzgebungen steht noch aus.

Zudem gilt es, Fragen rund um die Haftung bei Unfällen und die Versicherung autonomer Fahrzeuge zu klären. Wie wird die Versicherungswirtschaft solche Policen gestalten? Wer haftet im Falle eines Falles: der Fahrzeughalter, der autorisierte Passagier, der Hersteller oder der Urheber der Steuerungssoftware? Auch die Themen Datenschutz und Eigentum der riesigen Datenmengen, die beim autonomen Fahren entstehen, sind noch ungeklärt. Gehören die Daten dem Fahrzeugbesitzer oder -halter, dem Hersteller oder einer anderen Instanz? Im Zusammenhang mit der Datensicherheit beunruhigt die Vorstellung, dass Hacker die Kontrolle über ein autonomes Fahrzeug übernehmen könnten.

Ungeklärte Rahmenbedingungen und offene Fragen

Ebenso steht die technische Zuverlässigkeit autonomer Fahrsysteme in Frage. Wie lässt sich ein sicherer Zustand erreichen, wenn der Computer aussteigt, das System abstürzt? Wie kann eine schnelle und sichere Übergabe an den Fahrer gewährleistet werden, wenn der Computer nicht mehr weiter weiß? Und hoffentlich ist dann der Fahrer auch aufmerksam genug, wo er doch vorher gar nicht auf den Verkehr achten musste.

Natürlich bedarf es auch einer intensiven Diskussion rund um die gesellschaftliche Akzeptanz autonomen Fahrens, einer Debatte darüber, welches Maß an maschineller Autonomie von den Menschen gewollt ist und inwieweit sie überhaupt bereit sind, die Kontrolle an eine maschinelle Intelligenz abzugeben. Es muss auch ein gesellschaftlicher Konsens zu ethischen Fragen erzielt werden: Etwa darüber, welchen Regeln Algorithmen von Roboterautos folgen sollen, wenn es in einer kritischen Verkehrssituation nicht mehr möglich ist, Schaden komplett abzuwenden. Ein moralisches Dilemma. Wessen Leben genießt dann mehr Schutz: das der Fahrzeuginsassen, das eines Kindes oder das eines anderen Verkehrsteilnehmers? Eine Entscheidung, die wir uns möglicherweise gar nicht von Algorithmen abnehmen lassen wollen.Viele, zum Teil sehr brisante Fragen, die es zu klären gilt, bevor es mit der autonomen Mobilität im großen Stil losgehen kann.

Chancen autonomer Mobilität

Auf der anderen Seite sprechen viele gute Gründe für die autonome Mobilität, allen voran die Sicherheit im Straßenverkehr. Denn rund 90 Prozent aller Unfälle sind aus Sicht von Experten auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen: vom Fahren unter Alkoholeinfluss oder Einschlafen am Steuer bis zu riskantem Verhalten und Selbstüberschätzung. Mit ihrer nimmermüden Sensorik, eingeimpften Regeltreue und Intelligenz könnten autonome Autos künftig zu einem sichereren Miteinander im Verkehr beitragen. Zudem böten sie jenen Menschen die Chance auf individuelle Mobilität, die aufgrund ihrer körperlichen Konstitution nicht oder nicht mehr selbst das Steuer übernehmen können oder dürfen.

Darüber hinaus werden Roboterfahrzeuge als probates Mittel gesehen, den Verkehr flüssiger zu gestalten, sprich weniger Staus zu verursachen, weitere Einsparungen beim Energieverbrauch zu erzielen und Möglichkeiten zu eröffnen, den Verkehrsraum effizienter zu nutzen. So würden intelligente autonome Autos weniger Fahrspuren beanspruchen, Verkehrsschilder weitgehend überflüssig machen und den Bedarf an innerstädtischen Stellplätzen verringern, da sie eigenständig an der Peripherie parken könnten. Abholdienst dann via App auf dem Smartphone. So ließe sich Verkehrsinfrastruktur zurückbauen, um mehr Platz und Lebensqualität für die City-Bewohner zu schaffen – etwa in Form neuer Grünflächen. Bis autonomes Fahren tatsächlich Normalität auf unseren Straßen sein wird, fließt aber wohl noch viel Wasser den Rhein herunter. Evolution statt Revolution lautet die Devise. Entscheidend für den Zeithorizont der Markteinführung werden klare Rahmenbedingungen sein.

Und wo bleibt der Fahrspaß?

Der muss vielleicht neu definiert werden. Oder die Hersteller rüsten künftige autonome Modelle so aus, dass die Kunden die Wahl haben, ob sie sich von ihrem Fahrzeug bequem chauffieren lassen oder selbst aktiv das Steuer übernehmen wollen.

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